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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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Das lieferte ihnen doch nur Munition. War das nötig? Natürlich war es spießig und bigott, sich darüber aufzuregen, daß jemand auf einer Beerdigung ein bißchen Dekollete zeigte, aber es gab Festungen, die konnten einfach nicht geschleift werden, warum also sollte man immer wieder gegen sie anrennen? Wahrscheinlich war das gar nicht Glorias Absicht, sie hatte wirklich nur dieses eine schwarze Kleid, aber sie hätte doch auch was anderes anziehen können. Ich hätte sie leichter gegen den Vorwurf verteidigen können, sie sei schlampig angezogen, als gegen den, sie laufe herum wie ein Flittchen. Natürlich war sie kein Flittchen, natürlich war es mies, sofort an »Flittchen« zu denken, wenn man so ein Dekollete sah. Aber ich wußte doch, wie meine Eltern tickten, und mit denen würde auch Gloria noch länger auskommen müssen.
    Hier hielt ich inne.
    Wie lange mußte Gloria denn mit meinen Eltern auskommen? Für immer? Das war eine verdammt lange Zeit. Konnte ich meinen Eltern eine Schwiegertochter wie Gloria zumuten? Das war natürlich eine alberne Frage. Aber sie war mir durch den Kopf gegangen. Herrje, was konnte ich dafür, was mir durch den Kopf ging? Mir ging ständig irgendein Mist durch den Kopf, das durfte man nicht so ernst nehmen. Manchmal, wenn ich über eine belebte Straße lief, ging mir durch den Kopf, ich könnte überfahren werden und tot sein oder im Rollstuhl sitzen, aber das passierte ja auch nicht. Nichts passierte, nur weil ich es dachte.
    Und was dachte Gloria? Kriegte sie mit, daß ihr alle auf die Titten starrten? Das taten sie nämlich. War sie sich darüber im klaren, daß ich das alles ausbaden mußte? Ich wartete nur darauf, daß meine Mutter auf mich zukam und mich fragte, was das alles sollte, und ohne daß sie es aussprechen mußte, würde ich es wissen, daß sie Glorias Titten meinte. Ich wollte nicht, daß meine Mutter sich mit den Titten meiner Freundin befaßte.
    Wurde Gloria vielleicht geil? Normalerweise mußten sie die ganzen Gräber und der Sarg und die Kreuze doch mächtig in Stimmung bringen. Hatte sie vielleicht deshalb das Kleid angezogen? War das alles Absicht? Wollte sie mich gleich hinter einen Baum oder einen besonders hohen Grabstein zerren und es mit mir treiben, während die anderen Erde auf den Sarg des Onkels warfen? Mir wurde schlecht. Gloria machte keine Anstalten. Aber das konnte Tarnung sein.
    Am Grab ließen die sechs Männer den Sarg über drei dicke Seile in die Erde hinab, verschränkten ihre Hände vor ihren Bäuchen und blickten ein paar Sekunden in das Grab. Dann nahmen sie kurz ihre Zylinder ab, setzten sie wieder auf, zogen sich die weißen Handschuhe aus, warfen sie auf den Sarg und gingen weg. Ich sah ihnen nach. Nach ein paar Metern fingen sie an zu plaudern und steckten sich Zigaretten an.
    Frau Fuchs und Herr Figge stellten sich neben dem Grab auf. Jetzt mußten wir alle zum Grab gehen, etwas Erde hineinwerfen und dann Frau Fuchs und Herrn Figge kondolieren. Frau Fuchs nickte jedesmal, wenn jemand »Mein Beileid« sagte. Herr Figge sagte gar nichts, aber er sah aus, als würde er sich gleich zu Onkel Bertram legen. Als Gloria und ich zu den beiden kamen, starrte Frau Fuchs unverhohlen auf Glorias Brüste und auch Herr Figge sah kurz hoch.
    Dann gingen wir alle in eine Kneipe in der Nähe des Friedhofs. Die alten Leute sahen im Sitzen noch älter aus. Sie machten Geräusche, wenn sie von ihrem Kaffee tranken. Gloria und ich saßen mit meinen Eltern an einem Tisch. In der Mitte stand eine Kanne Kaffee und ein Teller mit Kuchen. Meine Mutter nahm sich Kuchen, mein Vater nur Kaffee. Gloria schenkte mir und sich Kaffee ein und bestellte bei der Kellnerin einen Cognac.
    »Ist das dein Ernst?« fragte ich.
    »Beerdigungen stehe ich ohne Cognac nicht durch«, sagte sie.
    »Es ist gerade mal zwölf!«
    »Ja und?«
    Meine Mutter fragte Gloria, was sie mache, und Gloria erzählte es ihr. Das irritierte meine Mutter. Von Sport hatte sie keine Ahnung. Sie fragte, was man da so mache, und Gloria sagte es ihr. Sie erzählte ihr von den French Open in Paris, aber meine Mutter hatte noch nie von den French Open gehört.
    Ich aß ein halbes Stück Torte. Dann konnte ich nicht mehr. Gloria trank ihren Cognac und bestellte noch einen zweiten. Mein Vater und meine Mutter sahen sich an. Wahrscheinlich zum ersten Mal seit Jahren.
    Ich stand auf und ging aufs Klo. Ich pinkelte und wusch mir die Hände, und als ich wieder herauskam, stand meine Mutter vor mir.
    »Sag

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