Liegen lernen
ist«, sagte sie.
»Das ist Geschichtsschreibung«, blaffte Mutter sie an. »Jedenfalls, wenn man an Leopold von Ranke glaubt, den Sie offenbar auswendig gelernt haben. Sie da, in dem Kleidchen! Sollte das ein Versuch sein, mich zu beeinflussen, muß ich Ihnen leider sagen, daß das bei mir nicht mehr zieht. Haben Sie eine Antwort?«
»Geschichte ist…« begann sie, »Geschichte ist… die Fakten.«
»Das ist ja schon mal grammatikalisch Blödsinn.« Er zeigte auf den dunklen Anzug. »Jetzt Sie!«
»Geschichte sind… Geschichte ist… die Darstellung… der Ablauf… äh… des Gewesenen…«
»Ist das Ihr Ernst?« Jetzt war ich an der Reihe. »Was haben Sie dazu zu sagen?«
»Nichts.«
»Aha. Wieso nicht?«
»Weil ich nicht in einem Satz erklären kann, was andere in ganzen Büchern nicht schaffen. Außerdem finde ich Theoriediskussionen ermüdend.« Am Abend zuvor hatte Roberta Appleman mich angerufen und mir ein paar Tips für den Umgang mit Professor Mutter gegeben. Ich solle, hatte sie gesagt, mich nicht von ihm einschüchtern lassen, er schätze Studenten mit eigenen Vorstellungen, die nicht gleich springen, wenn der Meister pfeift. »Und außerdem«, hatte sie gesagt, »hält er nichts von neumodischen Theoriediskussionen. Er ist ein Linker, aber von der moderaten Sorte. In seinem Sozialdemokratismus und seinem Glauben an die Kraft der Aufklärung ist er schon fast wieder konservativ.« Sie hatte tatsächlich »Sozialdemokratismus« gesagt.
Mutter nickte und sagte: »Sie haben den Job. Die anderen können gehen.« Die Schmallippige und die im Kleidchen straften mich mit einem Blick, den sie sonst sicher nur für Vergewaltiger bereit hielten. Im Hinausgehen murmelte die Schmallippige »Faschist«, und ich fragte mich, ob sie mich meinte oder Mutter.
Die Tür fiel etwas zu hart ins Schloß, und ich war mit Mutter allein. »Wie heißen Sie?«
Ich sagte ihm meinen Namen.
»Frau Appleman hat mir schon gesagt, daß Sie nicht auf den Kopf gefallen sind. Ihre Seminararbeit über Stahl war nicht übel. Manchmal etwas überzogen im Urteil, selbst wenn es die Quellenbasis nicht hergibt, aber das ist mir lieber als das faktensatte Beschreibungsgesülze vieler Ihrer Kommilitonen. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, was Geschichte genau ist, aber man braucht Phantasie, um sich damit zu beschäftigen. Und eine eigene Meinung, eine Position. Was wir machen, ist Wissenschaft, aber keine Mathematik.«
»Gut«, sagte ich.
»Also ab März arbeiten Sie für mich, was bedeutet, daß Sie für mich und den Lehrstuhl arbeiten. Offiziell sind das neun Stunden die Woche, es kann auch mal die eine oder andere mehr sein. Ich hoffe, da gehen Sie nicht gleich in die Knie.«
»Das wird sich zeigen.«
Damit war ich entlassen.
Gloria und ich redeten nicht über das, was in der Kirche war. Wir schafften es bis in den Frühling. Zum 1. März trat ich meinen Job bei Mutter an. Im Sekretariat stand ein Körbchen mit meinem Namen, und gleich am ersten Tag fand ich dort eine Liste mit Aufsätzen und Buchpassagen, die ich kopieren sollte. In der Bibliothek stellte ich fest, daß Mutter die Angaben wohl aus der Erinnerung niedergeschrieben hatte, denn kaum eine stimmte. Mal war der Titel richtig, aber die Zeitschrift, in welcher der betreffende Aufsatz veröffentlicht worden war, stimmte nicht, also sah ich in den gängigen Fachzeitschriften nach, bis ich ihn fand. Manchmal war der Titel genauso falsch wie die Zeitschrift und es stimmte allenfalls der Autor, dann wieder gab es die Monographie nicht, von der Mutter glaubte, daß er sie brauche, oder der Autor schrieb sich »Schmitt« statt »Schmidt« oder hieß, besonders witzig, »Schaf« statt »Wolf«. Ich korrigierte das stillschweigend. Ich brauchte etwa zwei Stunden, dann hatte ich alles bis auf ein Buch zusammen.
Ich ging zurück zum Lehrstuhl, und die Sekretärin, Frau Schumann, ließ mich gleich zu ihm. Mutter saß am Schreibtisch und war über ein Buch gebeugt. Seine Füße unter dem Tisch waren nackt. Zunächst reagierte er nicht, also sagte ich: »Ich bin’s!«
»Das will ich hoffen«, brummte Mutter, ohne vom Buch aufzusehen. »Setzen Sie sich, ich bin gleich bei Ihnen.«
Ich wartete etwa fünfzehn Minuten. Mutter saß bewegungslos da und las. Ich hatte den Eindruck, eine Terrorgruppe hätte das Nachbargebäude sprengen können, und Mutter hätte es nicht bemerkt. Seine Stirn war in Milliarden Falten gelegt, der Mund leicht gespitzt. Dann fuhr er plötzlich herum und
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