Liegen lernen
sagte: »Sie sind schon zurück? Gab es Probleme?«
»Eigentlich nicht.«
»Was heißt eigentlich?«
»Das Buch von Price, ›The Evolution of the Zollvereins‹, von 1949 war in der Bibliothek nicht aufzutreiben.«
»Wieso nicht?«
»Es ist ausgeliehen.«
»An wen?«
»An Sie.«
»Stimmt.«
»Stimmt?«
»Ja, ich wollte sehen, ob Sie clever genug sind. Sie haben sich wahrscheinlich gedacht, der Alte ist nicht mal in der Lage, ordentlich zu bibliographieren. Aber tatsächlich wollte ich Sie testen.«
»Heißt das, Sie brauchen die Texte gar nicht?«
»So durchtrieben bin ich nun auch wieder nicht. Ich brauche das schon alles, was Sie so fleißig und vor allem so schnell kopiert haben, aber ich habe Ihnen die Arbeit etwas schwerer gemacht, als es hätte sein müssen. Kommt nicht wieder vor. Jetzt weiß ich ja, daß Sie zu eigenständiger Arbeit fähig sind.«
Auch in den nächsten Wochen lief es gut mit Mutter. Ich sagte ihm, ich wolle mich von ihm prüfen lassen, und er sagte, es sei ihm ein Vergnügen.
Gloria hatte sehr viel zu tun. Sie berichtete jetzt immer häufiger über Tennisturniere. Als die Sandplatzsaison begann, fuhr sie nach Mailand und nach Monte Carlo und dann nach Paris zu den French Open. Wir schliefen immer weniger miteinander, aber das lag daran, daß sie so selten zu Hause war und ich am Lehrstuhl zu tun hatte. Ich arbeitete viel mehr als die neun Stunden, die im Vertrag standen. Mutter sagte, er wisse das zu schätzen.
Unter meinen Kommilitonen galt ich jetzt als Mutters Schoßhündchen. Ich hatte den Ruf eines Strebers. Das sagte mir mal jemand, nachdem ich ihn bei seinem Referat korrigiert hatte. Er hatte offensichtlichen Unsinn erzählt über Theodor Mommsen und die Göttinger Sieben, und als Mutter in die Runde fragte, wer etwas dazu sagen könne, meldete ich mich und stellte den Sachverhalt richtig. Danach herrschte eisiges Schweigen, als hätte ich jemanden denunziert. Nach dem Seminar kam der Referent zu mir und nannte mich einen Speichellecker und einen Streber. Zuerst fühlte ich mich getroffen. Aber als ich darüber nachdachte, war mir klar, daß er sich nur abreagieren mußte, weil er schlecht vorbereitet gewesen war. Ich hatte keinen Zugang zu irgendwelchem Geheimwissen. Ich las nur etwas gründlicher und konnte die richtigen Bezüge herstellen. Auch Beck sagte, ich solle mir deswegen keine Gedanken machen. Das sei der Neid der geistig Besitzlosen. Schon am nächsten Tag dachte ich nicht mehr daran.
Am Lehrstuhl ging es nicht zu wie an der Supermarktkasse. Ich stellte fest, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gewesenen eine interessante Mischung bot aus Faktenvermittlung und Kreativität. Wenn ich Quellen las, sprangen mich plötzlich Zusammenhänge an. Ich hatte mich nicht zu entscheiden zwischen verschiedenen Schokoriegeln. Wenn ich etwas behauptete, hatte ich es mit Fakten zu belegen. Und was nicht zu belegen war, das behauptete ich nicht. Das fiel mir leicht. Ich fand immer mehr Gefallen daran. Im gleichen Maße kamen mir meine Kommilitonen hohl vor, bis auf ein paar Ausnahmen. Ich nahm es hin, daß sie mich für ein Arsch hielten. Und bei Mutter wußte man immer, woran man war. Er wurde nicht privat, erzählte einem nicht Schwanke aus seiner Jugend, er machte nur klar, daß er der Chef im Ring war. Hatte man das akzeptiert, war alles möglich. Nichts von wegen »Ich möchte wirklich wissen, was Sie eigentlich wollen!« Ich verbrachte mehr und mehr Zeit an der Uni.
Mir fiel auf, daß ich schon lange nicht mehr über Gloria gelacht hatte. Oder über etwas, daß sie gesagt hatte. Ich dachte wieder häufiger an Britta. Daran, daß sie niemals so dämliche Liebesromane gelesen hätte. Gloria und ich stritten immer mal wieder über solche Dinge. Ich schüttelte den Kopf, wenn wir zusammen im Buchladen waren und sie sich ihren Schund kaufte. Zu Hause sagte sie dann, sie sei mir wohl nicht klug genug. Ich sagte, das sei Unsinn, ich verstehe nur nicht, wie man so etwas lesen könne, aber das hatte ich schon oft gesagt. Ich wußte nicht, was ich sonst dazu sagen sollte.
Anfang Juni starb Onkel Bertram. Es kam ziemlich überraschend. Er war nicht krank, sondern Frau Fuchs wachte eines Morgens neben ihm auf, und er war tot. Onkel Bertram hatte irgendwann Frau Fuchs geheiratet, ganz heimlich, ohne daß wir etwas davon mitbekamen. Herr Figge, der alte Nazi, und eine andere Nachbarin waren die Trauzeugen. Bei seinem nächsten Geburtstag erzählte
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