Liegen lernen
fragte mich, ob er immer noch nach altem Blumenkohl roch, aber ich wollte es nicht wirklich herausfinden. Sie sagte: »Junge, ach Junge.« Als ich mich auf der Treppe noch einmal umdrehte, hatte sie die Tür schon geschlossen.
Meine Eltern wollten sich scheiden lassen. Was war das hier? Versteckte Kamera? Ich hatte plötzlich eine ziemlich genaue Vorstellung von der Bedeutung des Adjektivs »surreal«. Gleich würde sich eine Wolke vor den Mund schieben, ein Messer würde ein Auge zerschneiden, während irgend jemand sagt: »Das ist keine Pfeife.«
Reiche Leute ließen sich scheiden. Leute, die Bücher lasen. Leute, die in der Bahn erster Klasse fuhren. Leute, die Tagebuch führten und über sich nachdachten, Leute, die ihr bisheriges Leben einer Prüfung unterzogen und feststellten, daß da was fehlte. Meinen Eltern fehlte nichts. In unseren Kreisen ließ man sich nicht scheiden. In unseren Kreisen merkte man vielleicht, das etwas nicht stimmte, aber man zog doch nicht gleich so drastische Konsequenzen. Natürlich hatte ich gedacht, das seien nicht mehr wirklich meine Kreise. Ich war Dozent. Naja, akademisches Proletariat, Vertragssklave, aber Teil dieser großen, wunderbaren wissenschaftlichen Gemeinschaft, der »scientific Community«. Und jetzt holten meine Eltern mich zurück nach Hause. Und da ließ man sich nicht scheiden, basta. Und dann auch noch so überraschend!
Die Nachricht war noch nicht wirklich zu mir vorgedrungen.
Ich ging nach unten und blieb ein paar Minuten im Hausflur stehen. Es war nichts zu hören. Es war Sonntag. Sonntag im Haus meiner Eltern. Mama und Papa hatten sich nicht mehr lieb. Das ganze Haus war still. Ich ging zur Kellertür. Sie wurde noch immer nicht abgeschlossen. Ich ging die Treppe hinunter und dann zum Keller meines Vaters. Es hing immer noch das gleiche Vorhängeschloß an der gleichen Lattentür. Ich versuchte durch die Latten zu schauen, wie damals, als ich meinen Vater hatte tanzen sehen. Aber er hatte dunkle Plastikfolie von innen an die Tür genagelt, und ich konnte nichts sehen. Ich blieb etwa zwanzig Minuten da unten. Mein Vater kam nicht.
Ich ging nach draußen. Ein Vogel hatte auf mein Auto geschissen. Es war ein neuer Wagen, und es würde eine verdammte Sauerei werden, die Vogelscheiße abzuwischen, damit sie mir nicht den Lack ruinierte. Ich stieg ein und fuhr los.
Vor ein paar Wochen hatten Tina und ich zum ersten Mal vom Heiraten gesprochen. Wir waren jetzt seit fast vier Jahren zusammen. Ihr Vater hatte diesen Wagen bezahlt und die Wohnung, in der wir lebten. Wir wohnten im sechsten Stock und hatten einen guten Blick über die Stadt. Unter dem Haus war eine Tiefgarage, und mit dem Aufzug konnte man direkt bis vor unsere Wohnung fahren. Im Parterre war eine Zahnarzt-Praxis, nur hundert Meter weiter ein Supermarkt und gleich daneben ein Bäcker und ein Metzger.
Ich fuhr aus der Stadt heraus, zum Stausee, stellte den Wagen auf einem Parkplatz ab und ging spazieren. Das waren die neunziger Jahre. Mama und Papa ließen sich scheiden. Auf nichts war mehr Verlaß. Wenn es so weiterging, würde bald vielleicht sogar Helmut Kohl abgewählt! Die Welt war aus den Fugen. Wenn man Beck glaubte, war das Internet an allem schuld. Er war nicht dagegen, aber er meinte, die Leute erwarteten so viel davon. Wenn man diese Zeitschriften durchblätterte, die einem klarzumachen versuchten, daß man ohne Internet nur noch eine soziale Amöbe war, dann ging einem schon durch den Kopf, wie man denn bisher nur hatte überleben können, ohne täglich sechs E-Mails aus Afghanistan zu bekommen.
Waren meine Eltern vielleicht auf so etwas hereingefallen? Hatte meine Mutter tatsächlich einen Lover? Den sie im Cyberspace kennengelernt hatte? In einem obskuren Chatroom, wo sich die Leute Namen gaben wie »Mickeymouse Overdrive« oder »Die Sau von Nürtingen«? War meine Mutter online? Ich hielt nichts mehr für unmöglich. Vielleicht sollte ich die Augen offen halten und ab und an das Nachmittagsprogramm nach ihnen absuchen. Vielleicht saßen meine Eltern bald bei Arabella oder Sonja oder Vera oder Andreas oder Ilona oder Jörg oder weiß der Teufel wo und stammelten sich einen ab zum Thema »Nicole, nach zweihundert Jahren Ehe lassen wir uns doch noch scheiden«.
Meine Güte, wie hätte ich als Kind in die Hände geklatscht und getrommelt und gepfiffen, wenn mir einer prophezeit hätte, es gebe irgendwann den ganzen Tag Fernsehen. Und die ganze Nacht auch noch! »Sendeschluß« – ein
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