Liegen lernen
aber Tina sagte, das sei eine Anschaffung fürs Leben.
Ich verdiente nicht viel. Ich hangelte mich von einem Zweijahresvertrag zum nächsten und schrieb ab und zu Aufsätze. Außerdem unterstützte ich Mutter bei seiner großen Gesamtdarstellung des neunzehnten Jahrhunderts. Einmal hatte ich monatelang ganz ohne Bezahlung gearbeitet, da nach einer Weisung des Wissenschaftsministeriums frei werdende Stellen neun Monate nicht besetzt werden durften. Das gesparte Geld ging in den Osten, um dort die Universitäten neu aufzubauen.
Seit drei Jahren war ich promoviert und hatte eine volle Assistentenstelle, und Mutter erwartete, daß ich mich auch habilitierte, aber dazu hatte ich keine Zeit. Tina sagte, es sei besser, einen Job bei einem Verlag oder so anzunehmen, aber das wollte ich nicht.
Ich fühlte mich Mutter verpflichtet. Als ich damals aus Berlin zurückkam, erzählte ich ihm, warum ich dagewesen war. Er feuerte mich nicht, obwohl er nicht gerade begeistert war.
Roberta hatte damals nichts mehr von mir wissen wollen. Zwei Wochen lang hatte sie nicht gewußt, was mit mir war. Dann stand ich eines Morgens vor ihrer Tür, als sie gerade auf dem Weg ins Institut war. Sie sagte nur, sie habe es eilig und ich sollte die Sachen, die ich noch in ihrer Wohnung hätte, mitnehmen und den Schlüssel auf den Küchentisch legen. Dann ging sie weg, und ich suchte meine Sachen zusammen und legte den Schlüssel auf den Küchentisch. Sie redete nicht mehr mit mir. Wenn wir uns auf dem Gang begegneten, grüßte sie mich wie jeden anderen auch. Ein Jahr später bekam sie eine Stelle in München.
In den Wochen, nachdem ich aus Berlin zurückgekommen war, wollte ich niemanden sehen. Ich arbeitete am Lehrstuhl und schrieb meine Arbeiten, aber sonst lag ich im Bett und sah fern. Ich telefonierte ein- oder zweimal mit Beck, aber es war nicht gut. Ein paar Monate später ging ich zu seiner Hochzeit und saß am Tisch der Leute, die ihn nur flüchtig kannten.
Ich hatte immer so etwas wie einen »besten Freund« gehabt. Früher war es wohl Mücke gewesen. Hätte man mich gefragt, was ich von ihm hielt, hätte ich wahrscheinlich gesagt, er sei ein Idiot. Tatsache war, daß ich immer viel Zeit mit ihm verbrachte. Wenn mir langweilig war, rief ich ihn an. Später hatte Beck dann diese Rolle übernommen. Nur, über Beck hätte ich nie gesagt, daß er ein Idiot sei.
Mücke war die alte Welt für mich. Mücke erinnerte mich an den Hausflur meiner Eltern, an die Grundschule, an die Straße, in der ich aufgewachsen war, an die Sprache, die man mir beigebracht hatte, an die Hosen, Pullover, Socken und Unterhosen meiner Kindheit und Jugend. Beck war die neue Welt. Er stand für Parkettböden und Universität, Wohnungen mit hohen Dekken in Jugendstilhäusern, die ich einmal bewohnen wollte, er stand für die Sprache, die ich dazugelernt hatte, und für bessere Hemden, teurere Hosen, Socken aus reiner Baumwolle und dezent gemusterte Herrenslips.
Ich hatte mich schon oft gefragt, warum Beck und ich uns aus den Augen verloren hatten. Ich wußte nicht, was geschehen war. Was er sagte, hatte mir plötzlich nichts mehr gesagt. Vielleicht trug ich ihm nach, daß er Gloria nachtrauerte. Er meinte, das sei die Richtige für mich gewesen. Ich fragte mich, was ihn das anging. Er meinte, das sei die Frau gewesen, die mir nicht gestattet hatte, feige zu sein. Ich fragte mich, was er damit sagen wollte. Aber ich fragte mich, ich fragte nicht ihn. Ich rief ihn seltener an und ärgerte mich, wenn Mariele ans Telefon ging. Sein exaltiertes Gehabe ging mir immer mehr auf die Nerven. Seine Ratschläge, mein Benehmen betreffend, kamen mir nicht mehr hilfreich vor, sondern nur noch arrogant und selbstgerecht. Aber ich sagte ihm das nicht. Ich rief nur noch seltener an.
Es hing wohl auch mit Tina zusammen. Als ich Tina kennenlernte, gingen wir zwar ein- oder zweimal zu viert essen, aber die Gespräche kamen nicht in Gang, man quälte sich durch typische Konversationsthemen wie Tagespolitik, neue Bücher, alte Gemälde und schlechtes oder gutes Wetter und die Auswirkungen all dessen auf die Gelenke.
Seit ich mit Tina zusammen war und am Lehrstuhl immer mehr eingespannt war, ging ich überhaupt kaum noch aus. Ich war froh, abends zu Hause sein zu können. Manchmal hatten wir keine Lust zu kochen und bestellten Pizza oder chinesisches Essen. Das war eine der größten Errungenschaften der neunziger Jahre: Essen auf Rädern für Leute, die es eigentlich nicht
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