Liegen lernen
Wort aus ferner Zeit. Ich sah mich schon als alter Sack, wie ich meinen Enkeln versuche klarzumachen, daß wir früher nur drei Programme hatten: »Das Erste und das Zweite. Und das Dritte nur ganz undeutlich, und auch nur bei gutem Wetter!« Es paßte wohl in die Zeit, daß alte Leute durchdrehten und sich gegen die Naturgesetze verhielten. Niemand schämte sich mehr für etwas. Und die Idioten hatten dauerhaften Freigang.
Ich schüttelte mich. Ich kam mir vor wie ein alter Mann, dem die Welt fremd geworden war. Dabei stimmte das gar nicht. Obwohl mir nur noch siebzehn Jahre blieben, bis ich aus der marktrelevanten Zielgruppe herausfiel, auf die die Unterbrecherwerbung bei den Privatsendern zugeschnitten wurde. Und sie hatten mich so schön weichgekocht: Wenn ich mir zusammen mit Tina ein Video ansah, baute ich mir meine eigene kleine Werbepause. Ich drückte die Pausentaste auf der Fernbedienung des Videorecorders, ging in die Küche und verdrückte irgendein Markenprodukt. Für eine Extraportion Milch war man doch nie zu alt!
Wie konnten meine Eltern mir das antun? In einer sich so rasant ändernden Welt war man auch mit Anfang Dreißig darauf angewiesen, daß manche Dinge so blieben, wie sie immer gewesen waren.
Tina hatte erst kürzlich gesagt, daß sie Gerhard Schröder attraktiv fand! Politiker fand man nicht »attraktiv«! Das mußte irgendwo im Grundgesetz stehen. Und wenn, dann durften diese Leute auf keinen Fall Bundeskanzler werden! Aber da bestand wohl keine Gefahr. Die evangelische und die katholische Kirche sowie einige andere Weltreligionen hatten eine Abwahl Helmut Kohls sicher schon verboten. In ein paar Wochen wurde gewählt. Es fühlte sich anders an als in den letzten Jahren, aber das konnte nur eine Täuschung sein.
Plötzlich fühlte ich mich tatsächlich verlassen. Von meinen Eltern verlassen. Und betrogen. Meine Eltern waren Individuen. Mit Bedürfnissen. Meine Mutter jedenfalls. Ausgerechnet meine Mutter! Das einzige Bedürfnis, das meine Mutter früher gehabt hatte, war, sich über andere Leute das Maul zu zerreißen und mich davor zu warnen, daß ich nicht so endete wie der Nachbarsjunge.
Plötzlich merkte ich, daß ich heulte. Das war nicht mehr Witzig. Ich ging zu meinem Wagen zurück und fuhr nach Hause. Es regnete ganz leicht.
Ich fuhr in die Tiefgarage und stellte den Wagen auf unserem Platz ab. Auf dem Weg zum Fahrstuhl traf ich Herrn Wiechert aus dem dritten Stock, der gerade seine zwei zahmen Dobermänner zum Auto brachte. Wir grüßten uns. Herr Wiechert hatte eine schwarz-rot-goldene Fußmatte. Ich hielt ihn für einen Nazi, obwohl ich noch keine zwei Sätze mit ihm gewechselt hatte. Eine Deutschlandfahne als Fußmatte! War das nun der Gipfel des Patriotismus, oder war der Mann ein alter Anarchist, der Deutschland zum Fußabstreifen fand? Ich hatte den Eindruck, er starre Tina immer so geil an, aber das konnte auch Eifersucht sein.
Ja, ich war eifersüchtig. Das war anders als früher. Früher war ich stolz gewesen, wenn andere Männer meine Freundin anstarrten, wie sie es bei Gloria gemacht hatten. Aber heute spürte ich etwas in mir fressen, es war mir unangenehm, es machte mich wütend. Nicht, daß ich Tina nicht vertraute. Ich konnte es nicht erklären. Wenn ein anderer Mann sie anstarrte, wurde ich sauer. Und es war kein Beschützerinstinkt. Ich wollte sie nicht davor bewahren, von diesen lüsternen Augen des Fremden entehrt zu werden, nein, es war wohl mehr Revierverteidigung, und das war mir natürlich auch unangenehm, wenn ich darüber nachdachte. Aber ich konnte nichts dagegen tun.
Ich fuhr nach oben, schloß auf, ging in die Küche, nahm eine Rolle Küchenpapier und einen Lappen, fuhr wieder nach unten und wischte die Vogelscheiße vom Auto. Früher wäre es mir egal gewesen, aber es war wirklich sehr schlecht für den Lack. Ich fuhr wieder nach oben, warf die Tücher und den Lappen in den Müll, ging ins Wohnzimmer und setzte mich aufs Sofa. Dann ging ich in die Küche und holte mir ein Glas Wasser. Tina war noch im Büro. Manchmal ging sie auch sonntags hin. Vielleicht hätte sie mitkommen sollen. Meine Eltern mochten sie. Nicht, daß das etwas geändert hätte. Aber vielleicht hätte sie mir erklären können, was hier vor sich ging. Sie war doch so klug.
Mit dem Wasser in der Hand ging ich hinaus auf den Balkon. Er war ziemlich groß. Wir hatten uns gerade neue Stühle gekauft. Vier Stühle mit hohen Lehnen, aus Teakholz. Die waren nicht billig gewesen,
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