Liegen lernen
brauchten.
Bevor ich Tina kennenlernte, hatte ich kaum Verabredungen. Ein paarmal hatte ich was versucht und war mit einer Kommilitonin ins Kino gegangen. Es war auch ein paarmal zum Sex gekommen. Bei zweien dachte ich auch, es könnte etwas daraus werden. Zwei oder drei Wochen verbrachte man Zeit miteinander. Dann war klar, daß irgend etwas fehlte. Und dann merkte ich, daß es mir auf die Nerven ging, ständig den gleichen Scheiß abzuspulen: erst so tun, als wolle man tatsächlich nur ins Kino gehen, dann über den Film reden, mehr oder weniger intelligente Fragen an ihre »Persönlichkeit« richten, zuhören, charmant sein, ihr einerseits das Gefühl geben, daß man sie begehrenswert fand, dann aber auch nicht so aufdringlich sein, als wolle man nur das eine. Und im Bett dann immer die Frage: Wie scharf darf ich rangehen? Kann ich das eine machen, das andere aber nicht? Findet sie das andere unangenehm oder sogar ekelhaft? Und wenn man das andere nicht ausprobierte, war man dann einfallslos? Warum sagte sie nicht klipp und klar, was sie wollte? Und ein paar Tage später die erste scherzhafte Bemerkung über die Unordnung in der Wohnung, die nicht ihre war.
Es war ein Mittwoch, als ich merkte, daß ich müde war. Sie hieß Nicole und studierte Germanistik. Wir hatten Fisch gegessen, obwohl ich keinen Fisch mochte, aber sie war ganz wild darauf gewesen. Und dann saß sie auf mir und rammelte sich die Seele aus dem Leib. Und ich wurde müde. Was sie da machte, wirkte auswendig gelernt, bis in die kleinste Bewegung. So war es, wenn Kinder Gedichte aufsagen: Die Wörter waren in der richtigen Reihenfolge, und an den Versenden reimte sich alles, aber das, worum es in dem Gedicht ging, kam beim Aufsagen nicht vor. Ich war müde, und ich wurde weich. Nicole tat so, als sei sie gekommen und legte sich neben mich. Sie fragte, ob es an ihr liege. Am liebsten hätte ich zurückgefragt, ob sie immer so selbstbezogen sei und tatsächlich glaube, mich impotent gemacht zu haben. Aber ich brachte das Spiel über die Zeit und beteuerte, das alles liege allein an mir, und sie spielte mit und sagte, für sie sei es aber auf jeden Fall sehr schön gewesen. Drauf geschissen. Wollte ich sagen, aber ich hielt den Mund. Ich war müde.
Was war mit dem Herzklopfen passiert? Diesem Gefühl der Panik, das angst macht, nach dem man aber auch süchtig wird. Ich hatte keine Angst mehr, etwas falsch zu machen, und deshalb machte ich auch nichts richtig. Andererseits war ich nicht mehr ganz so scharf auf diese Art Panik. Dieses ewige Ruft-siean? Wenn nicht: wieso nicht? Und doch: wieso tut sie das? Hat sie mich angelächelt heute morgen auf dem Schulhof? Oder hat sie nur gegähnt. Soll ich hingehen? Soll ich sie in Ruhe lassen? Soll ich ihr mehr schenken? Oder weniger? Einen Ring? Etwas aus dem Kaugummiautomaten? Eine Kette aus kleinen Brausebonbons? Ich war nicht mehr scharf auf die Angst, ein »Nein« oder ein »Ich dich nicht« wäre das Ende intelligenten Lebens in meinem Körper.
Ich hatte genug gebastelt. Jetzt war es an der Zeit, daß mal etwas funktionierte.
Ich schrieb meine Arbeiten und machte ein gutes Examen und fing mit meiner Dissertation an. Nichts und niemand lenkte mich ab. Ich verbrachte mehr und mehr Zeit am Lehrstuhl. Ich bekam einen Achtzehnstundenvertrag als wissenschaftliche Hilfskraft und verdiente wenigstens etwas mehr Geld. Ich fing an, Proseminare zu halten. Ich frühstückte zu Hause und aß in der Mensa zu Mittag, und oft war ich abends immer noch da. Ich war sehr konzentriert.
Wenn ich nicht im Büro saß, war ich in der Cafeteria und sah mir die Leute an oder unterhielt mich mit Studenten, die meine Seminare besuchten. Anfangs war es merkwürdig gewesen, daß sie mich siezten, und ich hatte mit dem Gedanken gespielt, ihnen das Du anzubieten, aber dann hatte ich Gefallen daran gefunden. Sie nahmen mich ernst, da sollten sie mich ruhig siezen.
Nach allem, was man hörte, galt ich als harter Hund. Ich nahm prinzipiell keine Seminararbeiten an, die länger als fünfzehn Seiten waren. Das war vollauf genug für eine Arbeit in einem Grundstufenseminar. Ein paarmal versuchten sie mich auszutricksen, indem sie die Seitenränder verringerten oder den Zeilenabstand und die Buchstabengröße. Also verteilte ich zu Beginn jedes Semesters ein Merkblatt, auf dem alles genau nachzulesen war: sechs Zentimeter Rand links, zwei rechts und jeweils drei oben und unten. Schriftgröße zwölf Punkt, Schriftart Times.
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