Liegen lernen
Fünfzehn Seiten plus Literaturverzeichnis, aber inklusive Anmerkungen, damit sie nicht auf die Idee kamen, den ganzen überflüssigen Text in den Fußnoten einzuschmuggeln. Manche versuchten sich durchzumogeln, appellierten an meine Gnade und sagten, es seien doch nur zwanzig Seiten, immerhin.
»Immer noch fünf zu viel.«
»Aber die fünf Seiten machen den Kohl doch nicht fett!«
»Meinen schon.«
Darüber hinaus bestand ich darauf, daß die Arbeiten noch vor Vorlesungsende eingereicht würden. Anfangs ließ ich ihnen manchmal noch die Semesterferien Zeit und machte ein paar Ausnahmen, weil der eine die kranke Großmutter zu pflegen hatte und die andere bis nachts in der Kneipe kellnern mußte. Aber dann fühlte ich mich zu oft verarscht, wenn ich die Leute abends in der Kneipe traf oder sie stundenlang in der Cafeteria hockten. Ich gab ihnen Zeit bis zur letzten Seminarsitzung im Semester. Danach nahm ich nichts mehr an. Konsequent. Da herrschte bald Klarheit.
Manchmal gab es Ärger. Einmal kam ein Fachschaftsvertreter in meine Sprechstunde. Es ging um die Arbeit eines Studenten. Er hatte versucht, mir zweiunddreißig Seiten unterzujubeln. Er drückte sie mir nach einer Seminarsitzung in die Hand und wollte sich gleich davonmachen.
»Stop!« sagte ich, blätterte die letzte Seite auf und las die Seitenzahl. »Bleiben Sie mal stehen!« rief ich, weil der Herr auf mein Stop nicht reagiert hatte. Widerwillig blieb er dann doch stehen und drehte sich ganz langsam um. Er trug einen Parka und hatte lange Haare. Ich wußte, daß er nicht auf den Kopf gefallen war, auch wenn er einem mit seiner aufgesetzten antifaschistischen Attitüde auf die Nerven gehen konnte.
»Die Arbeit ist zu lang«, sagte ich. »Die nehme ich nicht an.«
Er stellte sich vor mich und sah mich lange an. Dann riß er mir die Arbeit aus der Hand und ging. Im Gehen warf er die Tür ins Schloß.
Zwei Tage später kam der Fachschaftsvertreter zu mir. Es war der gleiche, der mir zu Beginn meines Studiums die Erstsemesterberatung verpaßt hatte. Er schien noch immer die gleichen Schuhe zu tragen. Mit der Fachschaft hatte ich nur im Fakultätsrat zu tun, in den ich mich auf Mutters Anregung hatte wählen lassen.
»Haben Sie die Arbeit überhaupt gelesen?« fragte er mich.
»Ich habe sie ja nicht mal angenommen.« Ich machte es mir bequem, kippte meinen Ledersessel fast ganz nach hinten.
»Das können Sie nicht machen.«
»Aber doch. Jeder hat am Anfang des Semesters sein Merkblatt bekommen.«
»Die Arbeit ist wirklich sehr gut.« Er saß auf der Kante eines einfachen Seminarstuhls und beugte sich leicht vor. Die Haare seines blonden Schnauzbarts hingen ihm über die Oberlippe.
»Aber zu lang.«
»Manchmal geht es nicht anders.«
»Es geht immer anders«, beharrte ich. »Man kann jedes Thema der Welt auf fünfzehn Seiten abhandeln.«
»Manchmal muß man etwas ausholen.«
»Beim Golf muß man weit ausholen«, sagte ich und mußte ein bißchen schmunzeln, denn der Witz gefiel mir selbst ganz gut, »aber hier hat man auf den Punkt zu kommen. Ich weiß, daß in den Geisteswissenschaften Geschwätz manchmal eine Tugend zu sein scheint. Hier ist das anders.«
»Wo ist hier?«
»An diesem Lehrstuhl.«
»Mann, Sie sind ein preußisches Arschloch.«
»Und Sie ein Versager. Im wievielten Semester sind Sie? Ich war bei Ihnen in der Erstsemesterberatung. Ich wette, Sie haben nicht mal das Grundstudium abgeschlossen.«
Warum war Tina jetzt nicht hier! Was sollte ich in einem Verlag!
Er stand auf und beugte sich nach vorn. Gleich haut er mir eine rein, dachte ich. Aber dann drehte er sich nur um und ging. Auch er warf die Tür ins Schloß.
Noch am gleichen Tag wurde er bei Mutter vorstellig, der am nächsten Tag zu mir ins Büro kam und mir sagte, daß er mich voll unterstütze. Ich solle nur so weitermachen und nicht weich werden.
Ich wußte, hier war ich richtig. Nie hatte ich mich so sehr im Recht gefühlt, nie war ich meiner selbst so sicher gewesen. Sollten sie doch sagen, ich sei Mutters Hausmeister, der den Kindern das Spielen auf dem Hof verbietet. Wenn das meine Rolle war, dann hatte ich meinen Text schon drauf.
Der Langhaarige im Parka hat die Arbeit nie abgegeben.
15
Ich lernte Tina Anfang 95 kennen. Gerber, ein dicker, aufdringlicher Student hatte mich zu seinem Geburtstag eingeladen. Er trug eine Brille mit sehr dicken Gläsern und hatte einen massigen Hals und ein mächtiges Doppelkinn. Er wußte eine Menge, wußte aber mit
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