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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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seinem Wissen nichts anzufangen. Er konnte gut auswendig lernen. Er war einer von diesen Typen, mit denen man immer Mitleid hat: Die tragen immer die falschen Schuhe und zu kurze Hosen, machen auch den obersten Hemdenknopf zu, ohne eine Krawatte zu tragen, und leben sehr lange bei ihren Eltern. In der Schule hatte man sich daran beteiligt, diese Typen fertigzumachen, sonst war man selbst dran. Einer wie Mücke war dann der Wortführer, und man klaute diesen Typen zum Beispiel während des Sportunterrichts die Schuhe, wohl wissend, daß es sie ekelte, nur mit Socken über den staubigen Boden zu gehen. Später hatte man dann Mitleid mit ihnen, wollte aber trotzdem nichts mit ihnen zu tun haben.
    Als ich gegen zehn zu der Party kam, verloren sich etwa fünfzehn Leute in Gerbers Wohnung. Gerber empfing mich an der Tür, drückte mir ein Glas Sekt in die Hand und verschwand dann wieder. Ich ging zum Büfett.
    Das Büfett bestand aus belegten Broten. Die Wurst- und Käsescheiben bedeckten gerade eben die Brotscheiben. Der Käse fing schon an zu schwitzen. Ich nahm einen Pappteller, legte zwei Schnitten mit Kochschinken und eine mit Käse drauf, drehte mich um und stieß mit ihr zusammen. Sie hatte schwarzes Haar, vorne Pony, hinten Pferdeschwanz, und sie trug ein dunkles Kostüm mit einer goldenen Brosche. Ich entschuldigte mich, und sie sagte, es sei ihre Schuld gewesen. Wir kannten beide sonst niemanden auf der Party und setzten uns zusammen in eine Ecke auf den Boden. Sie achtete darauf, daß ihr Rock nicht zu weit hochrutschte. Sie fragte mich, woher ich Gerber kenne, und ich sagte, er sei in meinem Seminar.
    »Ach, Sie studieren zusammen?«
    »Nein, ich gebe das Seminar. Woher kennen Sie Gerber?«
    »Ich bin seine Steuerberaterin.«
    »Wozu braucht ein Student eine Steuerberaterin?«
    »Das sollte er Ihnen besser selber sagen. Aber er braucht eine, soviel ist sicher.« Sie hatte gleichmäßige, weiße Zähne und einen kleinen Mund, aber ziemlich volle Lippen, jedenfalls für so einen kleinen Mund. Um die Augen herum hatte sie ein paar kleine Lachfältchen und um die Mundwinkel kleine Grübchen, die man deutlicher sah, wenn sie lächelte oder lachte, was ein guter Grund war, sie dazu zu bringen.
    Was war das Besondere an ihr? War sie nur ein Lichtblick auf dieser unglaublich peinlichen Party? Nein. Sie war auf ruhige Weise schön. Manchmal nickte sie und senkte den Blick, als wollte sie sagen: Ich weiß, worum es geht, in der Gegend habe ich mich auch schon verfahren. Kleine ironische Anspielungen brachten sie zum Lachen und nicht etwa zum Stirnrunzeln.
    Überhaupt, ihr Lachen: Es war nicht auffällig, nicht außergewöhnlich, die halbe Party hielt nicht inne, wenn sie es herausließ, aber es war ehrlich, so völlig ohne Verstellung. Und ging manchmal ganz unsouverän in ein Glucksen über. Da war nichts gespielt, nichts für die Galerie.
    Wir unterhielten uns etwa zwei Stunden lang. Tina erzählte mir viel über Steuern. Ich kümmerte mich um so etwas nur widerwillig, aber wenn man sie davon erzählen hörte, schien es die spannendste Sache der Welt zu sein. Was ich für ein undurchdringbares Chaos einander widersprechender Regeln, Anordnungen, Ausnahmen und Verboten gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein hochspannendes Geflecht komplexer Herausforderungen. Undurchschaubar sei es nur für den, der sich nicht damit befasse. Wenn man einmal drin sei, löse sich das Chaos ganz wundersam auf. Ihre Augen leuchteten, wenn sie so redete. Ich hatte noch nie so viel gelacht, wenn es um Steuern ging. Sie sagte, sie habe nie viel mit Geschichte anfangen können.
    Ich sagte, mit der Geschichte sei es ähnlich wie mit den Steuern, zumal Steuern in der Geschichte oft eine große Rolle gespielt hätten. »Die USA sind nur deshalb entstanden, weil einige Leute ihre Steuern nicht bezahlen wollten!«
    »Ach was?« sagte sie, und ich erzählte ihr ein bißchen über die amerikanische Revolution. Sie sagte, man könne mir sehr gut zuhören. Sie hatte eine kleine Nase, und ihre Hände waren ganz schmal, aber ihre Finger sehr lang.
    Irgendwann sagte sie, sie müsse gehen. Gerber hatte sich nicht blicken lassen. Ich sagte, ich wisse nicht, was ich noch hier sollte, und ging mit ihr nach draußen. Sie fragte mich, wo ich wohne, und ich sagte es ihr. Sie sagte, das liege zwar nicht direkt auf ihrem Weg, aber sie könne mich mitnehmen, wenn ich wollte. Ich hatte keinen Wagen mehr, seit ich den alten hatte verschrotten müssen. Ich sagte, ich

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