Life - Richards, K: Life - Life
später, im Hotel oder sogar erst am nächsten Tag, erfuhren wir dann davon.
Die Tatsache, dass Mick Taylor auf der’69er-Tour dabei war, schweißte die Band auf jeden Fall wieder enger zusammen. Deshalb war er auch auf Sticky Fingers dabei, was die Musik fast unbemerkt veränderte. Vielleicht machst du es dir gar nicht klar, aber du denkst beim Schreiben mit an Mick Taylor. Weil du weißt, wie kreativ der Kerl ist. Du musst ihm was bieten, was wirklich zu ihm passt. Nicht immer der alte Kram, den kannte er schon von John Mayalls Bluesbreakers. Also probierst du ein bisschen rum und hoffst, dass dem Publikum gefällt, was den Jungs in der Band gefällt. Einige Kompositionen auf Sticky Fingers basierten unmittelbar auf meinem Vertrauen, dass Mick Taylor was Großartiges draus machen würde. Ich wusste, was er draufhatte. »Sugar« brachten wir schon fertig aus Amerika mit, »Wild Horses« und »You Gotta Move« ebenso. Den Rest nahmen wir teils in Micks Stargroves-Villa auf, mit unserem neuen »Mighty Mobile«-Studio, und teils im März und April 1970 in den Olympic Studios. »Can’t You Hear Me Knocking« ist uns zugeflogen - ich entdeckte die richtige Gitarrenstimmung und das passende Riff und legte los, Charlie stieg ein, und wir dachten uns nur: Hey, das ist ein Groove! Überall nur lächelnde Gesichter. Auf der Gitarre spielt sich der Song ziemlich leicht, diese abgehackten Stakkatoanschläge, ganz simpel und direkt. Bei »Sister Morphine« hatte Marianne die Finger im Spiel. Ich kenne Micks Stil und bin mir sicher, dass ein paar Zeilen von ihr stammen. Die beiden lebten ja auch gerade
zusammen. »Moonlight Mile« ging vollständig auf Micks Konto. Soweit ich weiß, hatte er schon einen vollständigen Plan im Kopf; die Band musste nur noch rausfinden, wie man den Song spielt. Mick kann wirklich schreiben - und wie. Er war unglaublich produktiv. Manchmal, wenn er die Texte wie am Fließband abspulte, fragte man sich nur: Verdammt, mach mal halblang, Junge, die anderen wollen auch mal zu Wort kommen! Aber ich will nicht meckern. Er hat ein wundervolles Talent. Mit Gedichteschreiben hat das wenig zu tun, man rattert die Texte nicht isoliert runter. Sie müssen zum Rest passen, der schon vorgegeben ist. Das zeichnet einen guten Texter aus - wenn du ihm ein bisschen Musik gibst, überlegt er sich, wie er den Gesang einbaut. Darin ist Mick brillant.
Damals scharten wir zunehmend Musiker um uns, die auf unseren Platten mitspielten - die sogenannten Supersidemen. Teils sind sie heute noch dabei. Nicky Hopkins war praktisch vom Start weg an Bord, Ry Cooder war dazugestoßen und gleich wieder verschwunden. Für Sticky Fingers kamen wir wieder mit dem großartigen texanischen Saxofonisten Bobby Keys und seinem Partner Jim Price zusammen. Zuvor hatten wir ihn kurz in den Elektra Studios getroffen, wo er mit Delaney & Bonnie aufnahm, das erste Wiedersehen seit unserer ersten US-Tournee. Jimmy Miller, der dort an Let It Bleed arbeitete, ließ Bobby ein Solo für »Live with Me« einspielen. Der Song war roher, gradliniger Rock’n’Roll, direkt in die Fresse, wie geschaffen für Bobby - und die Geburt einer langen Zusammenarbeit. Ans Ende von »Honky Tonk Women« setzten Bobby und Jim Price noch ein paar Bläser, die allerdings so leise abgemischt sind, dass man sie nur in den letzten anderthalb Sekunden hört, während der Song ausblendet. Die Idee hatten wir von Chuck Berry, der am Schluss von »Roll Over Beethoven« ein Saxofon arrangiert hatte. Diese Idee, im letzten Moment noch ein neues Instrument erklingen zu lassen, fanden wir großartig.
Keys und Price flogen nach England, um ein paar Sessions mit Clapton und George Harrison zu spielen, und liefen in irgendeinem Nachtclub Mick in die Arme. Wir dachten uns: Das ist unsere Chance. Die beiden waren eine verdammt heiße Bläsersection, Micks Meinung nach genau das, was wir brauchten. Ich hatte nichts dagegen. Diese texanische Bulldogge schaute mich an und sagte in ihrem Südstaatenkauderwelsch: »Wir haben schon mal zusammen gespielt.« »Ach ja? Wo?« - »Auf der San Antonio Teen Fair.« - »Da seid ihr aufgetreten? Echt?« - »Worauf du verdammt noch mal Gift nehmen kannst.« Da konnte ich nur noch sagen, scheiß drauf, hauen wir rein. Er schenkte mir ein fettes Grinsen, richtig von Herzen, packte meine Hand und drückte fest zu, als wollte er einen Felsklotz zerquetschen. Was für ein Hurensohn! Bobby Keys! Bei der Session im Dezember’69 blies er bei
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