Life - Richards, K: Life - Life
Und dann hieß es: Wer verträgt am meisten? Die besonders Mutigen kippten noch weißen Rum in die Kokosnuss, wie in eine Wasserpfeife, und rauchten durch den Rum hindurch. Wenn man den Tonkrug in Brand setzte, schossen Flammen und Rauch in die Höhe. »Fire burn, Jah wonderful!« Ich gab mein Bestes, ich konnte mich ja schlecht gegen die hiesigen Bräuche auflehnen. Das Gras war heftig, aber merkwürdigerweise stand ich immer meinen Mann. Das hat sie beeindruckt,
glaube ich. Ich hatte schon ein paar Jahre geraucht, aber niemals solche Mengen. Es war eine Art Mutprobe: Die wollten sehen, wie der weiße Mann umkippt. Ich sagte mir pausenlos: Du kippst nicht um, du kippst nicht um - und siehe da, ich blieb auf den Beinen und bei Bewusstsein. Okay, später, nachdem ich mich verabschiedet hatte, kippte ich dann doch um.
Die ganze Bevölkerung von Steer Town schien nur aus Musikern zu bestehen, deren Musik aus ganz eigenen, wunderschönen Versionen von alten Kirchenliedern voller Gesänge und Trommeln zu bestehen schien. Ich war im Himmel. Sie sangen einstimmig, Harmoniegesang gab es nicht und bis auf Trommeln auch keine Instrumente. Trommeln und Stimmen, ein extrem kraftvoller Sound. Die Gesänge und Texte waren mindestens hundert Jahre alt, uralte Loblieder und Psalmen, die sie nach ihrem eigenen Geschmack umgedichtet hatten. Die eigentlichen Melodien kamen direkt aus der Kirche. In vielen jamaikanischen Kirchen wurde getrommelt. Die Leute trommelten und sangen die ganze Nacht hindurch - ein hypnotisches Erlebnis, wie in Trance, ein unermüdlicher Rhythmus. Ständig brachten sie neue Songs, einen nach dem anderen, und teils wirklich innovatives Zeug. Für die Drums war Locksley zuständig. Seine mächtige Basstrommel konnte einen angeblich umbringen - eine dicke, fette Granate von einer Trommel. Man erzählte sich von einem Cop, der den Fehler gemacht hatte, sich in ein Haus in Steer Town vorzuwagen. Locksley hätte ihn angeblickt und gesagt: »Fire burn« , was so viel hieß wie »gleich haue ich auf die Trommel«. Sofort wussten die anderen in dem kleinen Zimmer, was zu tun war - sie hielten sich die Ohren zu, während Locksley die Basstrommel bearbeitete. Der Cop wurde ohnmächtig und kippte um, sie knöpften ihm seine Uniform ab und gaben ihm zu verstehen, sich nie wieder blicken zu lassen.
Damals hätte Steer Town genauso gut Rasta Town heißen können. Heute hat es sich zu einem richtigen Verkehrsknotenpunkt entwickelt; damals brauchte man fast schon eine Zugangsberechtigung, um das Gebiet der Rastafaris zu betreten. Dabei musste man nur eine Durchgangsstraße aus Kingston raus nehmen, um nach Steer Town zu kommen: ein paar Kreuzungen, zahllose Hütten, einige Kneipen. Aber man fuhr lieber schnell weiter. »Hey, ich kenn dort den und den!« - das war nicht genug. Andere kannten dich vielleicht nicht, und dann bekamst du schnell die Klinge zu spüren. Steer Town war ihr Rückzugsort, sie zögerten keinen Moment, die Machete zu zücken. Und ihre Bedenken waren nicht unbegründet. Tatsächlich mussten sie sich selbst zu Monstern stilisieren, um die Polizei auf Abstand zu halten. Eine besondere Praxis hatten die Cops erst vor kurzem aufgegeben: Wenn sie zwei Rastas die Straße runtergehen sahen, erschossen sie einen davon; der andere durfte dann die Leiche wegräumen. Aber die Rastas sind nicht gewichen, und dafür hab ich sie von jeher bewundert.
Der Rastafarianismus ist eine Religion - eine Raucherreligion, um genau zu sein. Ihr Grundprinzip lautet: »Ignoriere die Welt.« Führe ein Leben abseits der Gesellschaft. Was sie natürlich nicht tun oder nicht können; Rastafarianismus ist verlorene Liebesmüh. Aber eine wunderschöne Form von verlorener Liebesmüh. In allen Gesellschaften war das Netz engmaschiger geworden, überall rückten die Wände, die Gefängnismauern enger zusammen, aber die Rastafaris machten sich von alldem frei. Sie suchten sich ihre eigene Spiritualität, ihren eigenen Weg, sich aus allem rauszuhalten. Auf Einschüchterungsversuche gingen sie gar nicht erst ein, selbst wenn es ihren Tod bedeutete. Und es gab Tote. Sie weigerten sich, im Wirtschaftssystem mitzumischen, sie wollten nicht für Babylon arbeiten, sie wollten nicht
für die Regierung schuften. In ihren Augen war das gleichbedeutend mit Sklaverei. Sie wollten in Ruhe gelassen werden, sonst nichts. In den Feinheiten ihrer Theologie kann man sich schon mal verirren. »Wir sind der verlorene Stamm Juda!« Alles klar, wie du
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