Life - Richards, K: Life - Life
kleinen Jungen in seiner Wiege vor Augen. Hey, kleiner Mann, wir sehen uns wieder, wenn die Tour zu Ende ist! Er wirkte kerngesund, wie Marlon in winzig. Leider hab ich den kleinen Hosenscheißer nie kennengelernt. Jedenfalls nicht richtig. Ich glaube, ich habe ihn nur zweimal gewickelt. Lungenversagen, plötzlicher Kindstod.
Anita fand ihm am nächsten Morgen. Damals wollte ich keine Fragen stellen, und bis heute ist sie die Einzige, die Bescheid weiß. Aber mir ist klar, dass es ein großer Fehler war, den Kleinen allein bei ihr zu lassen. Ich behaupte nicht, dass es ihre Schuld war; gegen plötzlichen Kindstod ist man machtlos. Egal, dass ich einen Säugling im Stich gelassen habe, das werde ich mir nie verzeihen. Ich fühle mich, als hätte ich meinen Wachposten aufgegeben.
Bis heute haben Anita und ich nicht darüber gesprochen. Ich habe das Thema nie angeschnitten, ich wollte keine alten Wunden aufreißen. Wenn sie darüber reden wollte, wäre ich wohl auch dazu bereit, aber aus eigener Initiative kann ich es nicht ansprechen. Der Schmerz ist noch immer zu groß. Ich bin nie über Taras Tod hinweggekommen, und sie auch nicht, da bin ich mir sicher. Über so was kommt man nicht hinweg. Und darunter hat unsere Beziehung zweifellos weiter gelitten. Anitas Abstieg beschleunigte sich, sie rutschte noch tiefer in ihre Angstzustände und die Paranoia.
Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Deshalb habe ich Eric Clapton geschrieben, als sein Sohn starb - ich konnte erahnen, was er durchmachte. Eine Zeit lang spürst du überhaupt nichts mehr; erst ganz allmählich begreifst du, dass du den kleinen Kerl weiter lieben kannst. Unmittelbar danach ist dir alles viel zu viel. Wenn du ein Kind verlierst, sucht es dich immer wieder heim. Die Dinge sollten ihren natürlichen Lauf nehmen: Ich habe meine Mum verloren, ich habe meinen Dad verloren - das ist der Lauf der Dinge. Aber wenn du ein Baby verlierst, kommst du nie mehr zur Ruhe. Irgendwo in meinem Inneren herrscht für immer eisige Kälte. Wenn ich ganz selbstsüchtig nur an mich denke, bin ich eigentlich froh, dass es so früh passiert ist, wenn es schon passieren musste. Er war noch so klein, wir hatten noch keine richtige Beziehung aufgebaut. Heute begegne ich ihm
etwa einmal die Woche. Wo ist mein Junge? Aus dem hätte was werden können. »Ab und zu ergreift Tara von mir Besitz«, habe ich während der Arbeit an diesem Buch in mein Notizbuch geschrieben. »Mein Sohn. Jetzt wäre er über dreißig.« Tara lebt in mir. Dabei weiß ich nicht mal, wo sie den kleinen Kerl begraben haben, sofern sie ihn überhaupt begraben haben.
Noch im selben Monat schaute ich Anita fest in die Augen und begriff, dass Angela nicht bei ihr bleiben konnte. Solange wir Taras Tod noch nicht verarbeitet hatten, musste sie zu meiner Mutter. Erst nach einer ganzen Weile war wieder daran zu denken, sie zurückzuholen, und zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich schon in Dartford eingelebt. Bei Doris hat sie es sowieso besser, dachte ich mir. Dort verläuft ihr Leben in geordneten Bahnen, fernab von diesem ganzen Wahnsinn. Dort kann sie ganz normal aufwachsen. Und so kam es auch. Angela ist eine großartige Frau geworden. Doris war über fünfzig und absolut in der Lage, noch ein Kind großzuziehen. Als sich die Gelegenheit bot, sagte sie nicht Nein, und Bill unterstützte sie dabei. Mir war klar, dass die Bullen immer und immer und immer wieder vor meiner Tür stehen würden, warum sollte man seine Tochter dem aussetzen? Angela hatte einen Zufluchtsort vor meiner verrückten Welt, das war gut zu wissen. Die nächsten zwanzig Jahre blieb sie bei Doris. Marlon und ich waren zunächst weiter gemeinsam unterwegs, bis zum Ende der Tour im August.
Als Ronnie Wood 1976 aus steuerlichen Gründen nach Amerika auswanderte, packte auch ich meine Sachen im Wick zusammen. Wegen der Rund-um-die-Uhr-Überwachung konnten wir nicht zurück nach Cheyne Walk. Dort hätten wir permanent Fenster und Vorhänge geschlossen halten müssen - ein hermetisch abgeschirmtes Einsiedlerleben, wie im Belagerungszustand.
Irgendwie überleben und den Gesetzeshütern stets einen Schritt voraus sein, so war das damals. Unterwegs telefonierten wir immer im Voraus mit Leuten in der nächsten Station - wie sieht’s mit Nadeln aus? Der übliche bescheuerte Junkie-Mist, ein Gefängnis, das ich mir selbst geschaffen hatte. Eine Zeit lang wohnten wir im Londoner Ritz, bis wir die Flucht ergreifen
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