Life - Richards, K: Life - Life
und arbeitete bis fünf, ich kam um Mitternacht und arbeitete bis fünf Uhr morgens. Das waren aber nur erste Geplänkel, ein Sitzkrieg. Das Ergebnis der Arbeit war dennoch nicht übel, warum auch immer. Das Album verkaufte sich gut.
Mick hatte große Pläne. Wie alle Leadsänger. Das ist eine allgemein bekannte Krankheit, genannt LVS, Lead Vocalist Syndrome. Symptome hatten sich schon früher angedeutet, jetzt brach die Krankheit richtig aus. Im Stadion von Tempe, Arizona, wo Hal Ashby für seinen Konzertfilm Let’s Spend the Night Together Aufnahmen von den Stones machte, kündigte uns die Videotafel als »Mick Jagger and the Rolling Stones« an. Seit wann denn das? Mick kontrollierte jedes Detail - das war kein Versehen des Produzenten. Die Bilder wurden später herausgeschnitten.
Kombiniert man angeborenes LVS mit jahrelangem Dauerbombardement an Schmeicheleien, kann es passieren, dass die betreffende Person anfängt zu glauben, was ihr erzählt wird. Selbst wenn man sich von Schmeicheleien nicht beeindrucken lässt oder sie hasst wie die Pest - sie steigen dir einfach zu Kopf, sie bewirken etwas. Auch wenn du nicht alles davon glaubst, denkst du dir: Okay, wenn alle anderen es glauben, dann wird schon was Wahres dran sein. Du vergisst, dass Schmeicheleien zum Job gehören. Es
ist verblüffend, dass sogar vernünftige Menschen wie Mick sich davon mitreißen ließen, so dass sie tatsächlich glaubten, sie wären etwas Besonderes. Seit meinem neunzehnten Lebensjahr habe ich meine Schwierigkeiten mit Leuten, die mir sagen: »Du bist fantastisch«, denn du weißt genau, das ist alles Bockmist. Junge, Junge, da muss man aufpassen. Ich habe erlebt, wie leicht sich Menschen vereinnahmen lassen. In dieser Beziehung bin ich eisern. Das wird mir nie passieren. Eher verstümmele ich mich. Na ja, ein paar von meinen Zähnen haben schon dran glauben müssen. Doch dieses Spiel der Eitelkeiten spiele ich nicht mit. Ich bin nicht im Showgeschäft. Was ich am besten kann, ist Musik machen, und die ist es wert, gehört zu werden, da bin ich mir sicher.
Mick ist unsicher geworden, er hat angefangen, seinem eigenen Talent zu misstrauen - ironischerweise scheint das die Wurzel jener Selbstüberhöhung zu sein. In den Sechzigern war Mick viele Jahre lang unglaublich charmant und humorvoll. Er war ganz natürlich. Es war ein elektrisierender Anblick, wie er auf diesen kleinen Bühnen sang und tanzte. Es war faszinierend, mit ihm zusammenzuarbeiten und ihn zu beobachten - die Bewegungen, die wirbelnden Drehungen. Er dachte nie darüber nach. Seine Performance war aufregend, und trotzdem wirkte sie völlig unangestrengt. Er ist immer noch gut, auch wenn ich der Meinung bin, dass sich seine Klasse auf den großen Bühnen verliert. Aber das wollten die Menschen sehen: ein Spektakel. Auch wenn es nicht unbedingt das ist, was er am besten kann.
Irgendwann wurde er unnatürlich. Er vergaß, wie gut er auf kleinem Raum ist. Er vergaß seinen natürlichen Rhythmus. Ich weiß, dass er anderer Meinung ist. Was die anderen machten, fand er viel interessanter als das, was er selbst tat. Er begann sogar, sich wie ein anderer zu verhalten. Mick ist ein Mensch, der sich ständig im Wettbewerb mit anderen sieht, und er fing an, mit anderen Bands zu
wetteifern. Er beobachtete, was David Bowie tat, und wollte ihm nacheifern. Bowie war eine Riesenattraktion. Da versuchte jemand, Mick in Bezug auf Kostümierung und Exzentrik zu übertreffen. Aber Tatsache ist, dass Mick, wenn er »I’m a Man« sang, selbst in T-Shirt und Jeans zehnmal besser auf der Bühne war als David Bowie. Warum will man ein anderer sein, wenn man Mick Jagger ist? Reichte es nicht, dass man der größte Entertainer im Showgeschäft war? Er vergaß, dass ursprünglich er es war, der über Jahre das Neue verkörperte, der die Trends setzte. Ein faszinierendes Phänomen. Ich kann es mir nicht erklären. Fast sah es so aus, als strebte Mick danach, Mick Jagger zu werden, als jagte er seinem eigenen Phantom nach. Er heuerte Design-Berater an, die ihm dabei helfen sollten. Niemand hatte ihm das Tanzen beigebracht, aber jetzt nahm er Tanzstunden. Charlie, Ronnie und ich lachen uns ziemlich oft ins Fäustchen, wenn wir sehen, wie Mick da vorne irgendeine Figur hinlegt, die ihm sein Tanzlehrer beigebracht hat, anstatt einfach er selbst zu sein. Wir merken sofort, wenn er unecht wird. Scheiße, Charlie und ich haben diesen Arsch jetzt seit über vierzig Jahren vor Augen! Wir wissen, wann
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