Life - Richards, K: Life - Life
musst und dir geht langsam der Saft aus, dann brauchst du einen, der dich antreibt. »Also kommt, Jungs, einen noch.« Nie nachlassender Enthusiasmus. »Wir haben’s fast, wir sind ganz nah dran …«
England zu verlassen war in meiner Teenagerzeit eine ziemlich abwegige Vorstellung für mich gewesen. Mein Dad hatte es einmal getan, und zwar mit der Army, worauf sie ihm in der Normandie ein Bein wegschossen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, fortzugehen. Ich las nur über andere Länder und schaute mir im Fernsehen Filme oder in National Geographic Bilder an, die schwarze Frauen mit ihren nackten Brüsten und langen Hälsen zeigten. Aber ich rechnete nie damit, das je mit eigenen Augen zu erblicken. Das Geld zusammenzukratzen, um aus England rauszukommen, lag jenseits meiner Möglichkeiten.
Das erste Land, in das wir nach unserem Amerika-Trip reisten, war Belgien. Und sogar das war ein Abenteuer. Hätte genauso gut Tibet sein können. Dann kam das Olympia in Paris. Und plötzlich waren wir in Australien. Wir sahen tatsächlich die Welt und bekamen auch noch Geld dafür!
Aber es waren auch ein paar wirklich trostlose Löcher dabei. Dunedin in Neuseeland, zum Beispiel, eine der südlichsten Städte der Welt. Dunedin sah aus wie Tombstone und fühlte sich auch so an. Dort hatten sie noch diese Holzgeländer, an denen sie ihre Pferde festbanden. Es war ein Sonntag, ein nasser, dunkler Sonntag in Dunedin im Jahr 1965. Ich glaube nicht, dass es irgendwo sonst auf der Welt deprimierender hätte sein können. Der längste Tag meines Lebens, er wollte einfach nicht vorübergehen. Normalerweise konnten wir uns ziemlich gut die Zeit vertreiben, aber verglichen mit Dunedin erschien einem Aberdeen wie Las Vegas. Es kam nur sehr selten vor, dass wir alle gleichzeitig deprimiert waren, einer war normalerweise da, der die anderen aufmunterte. Aber in Dunedin war jeder total down. Keine Chance auf Erlösung oder Gelächter. Sogar Alkohol half nicht, wir wurden einfach nicht besoffen. Am Sonntag klopfte es dann leise an der Tür. »Ähem, in zehn Minuten fängt die Kirche an.« Es war wie einer dieser grauen,
trostlosen Tage meiner Kindheit, ein nicht enden wollender Tag, Trübsinn, und rein gar nichts am Horizont. Für mich ist Langeweile eine Krankheit, an der ich nicht gerade oft leide, aber dieser Augenblick war tiefster Tiefstand. »Ich glaub, ich stell mich jetzt auf den Kopf, vielleicht kann ich die Drogen recyceln.«
Alles nur wegen Roy Orbison! Wir waren nur deshalb hier, weil wir mit Roy Orbison auf Tour waren. Er war der unangefochtene Star des Abends. Welch ein Leuchtturm in dieser Trübsal am südlichen Ende der Welt. Der fantastische Roy Orbison! Er war einer von diesen texanischen Typen, die durch jeden Sturm segeln, sogar den ihres eigenen tragischen Lebens. Seine Kinder starben bei einem Brand, seine Frau starb bei einem Autounfall, nichts in seinem Privatleben lief glatt, und trotzdem gab es keinen sanfteren Gentleman, keine stoischere Persönlichkeit. Er hatte die unglaubliche Gabe, trotz seiner Einssiebzig wie ein Zwei-Meter-Koloss zu wirken, sobald er eine Bühne betrat. Es war ein Ereignis, das mitzuerleben. Er lag in seinen Shorts in der Sonne, rot wie ein Hummer. Und wir saßen um ihn rum, spielten Gitarre, plauderten ein bisschen, tranken, rauchten. Dann: »Also, Jungs, in fünf Minuten bin ich dran.« Wir schauen uns seine Eröffnungsnummer an. Ein vollkommen verwandelter Mensch marschiert auf die Bühne und wirkt mit seiner Ausstrahlung und der Art, wie er das Publikum im Griff hat, mindestens dreißig Zentimeter größer. Gerade noch trug er kurze Hosen. Wie macht er das bloß? Das ist eins dieser verblüffenden Dinge bei Bühnenkünstlern. Backstage ist man vielleicht nur ein armer Penner. Aber auf einmal: »Meine Damen und Herren, begrüßen Sie bitte …«, und schon ist man ein anderer.
Monatelang bastelten Mick und ich an unseren Songs herum, bis wir endlich einen hatten, den wir mit den Stones aufnehmen konnten. Wir produzierten ein paar schreckliche Machwerke, darunter
»We Were Falling in Love« und »So Much in Love«, ganz zu schweigen von »(Walkin’ Thru the) Sleepy City« (ein Abklatsch von »He’s a Rebel«). Manche wurden sogar zu mittleren Hits, zum Beispiel Gene Pitneys Version von »That Girl Belongs to Yesterday«. Allerdings hatte er den Text und unseren ursprünglichen Titel, »My Only Girl«, aufpoliert. Eines meiner vergessenen Juwelen, »All I Want Is My Baby«,
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