Lila Black 01 - Willkommen in Otopia
sich jäh. Sie hatte ein Bild von ihrem eigenen Grabstein gesehen: funkelnagelneuer schwarzer Marmor, mit Regentropfen übersät, ganz oben auf dem Friedhof am Windover Hill. Hier ruht Amanda Lila Black …
Das gab es nicht wirklich, noch nicht. Es war nur ihre Fantasie. Ihre Familie glaubte sie im Einsatz verschollen. Ihr Zimmer zu Hause existierte noch. Sie ließen es so, für den Fall, dass sie zurückkam. Sie wussten, sie würde zurückkommen, wenn sie konnte. Sich Incon gegenüber auf die Schweigeverpflichtung einzulassen, war Lila so leicht und logisch erschienen, als sie, medikamentös ruhig gestellt, in ihrem Krankenhausbett gelegen hatte. Später, während der langen, schmerzhaften Reha, hatte sie es schon nicht mehr so selbstverständlich gefunden. Als ihr das Ausmaß ihrer Verletzungen und die Folgen ihrer Rekonstruktion bewusst geworden waren, hatte sie sich diesen Grabstein vorgestellt, um irgendwie mit dem umzugehen, was sie inzwischen als ihren Tod ansah. Sie hatte erwartet, irgendwie wieder die alte Lila zu werden, obwohl sie jetzt eine wandelnde Eine-Frau-Armee war, aber wenn sie in ihr Inneres blickte, fand sie ihr altes Selbst nicht wieder. Selbst die Fotos kamen ihr irgendwie fremd vor, als stammten sie aus dem Leben von jemand anderem. Sie konnte nie mehr in ihre alte Welt zurückkehren, aber irgendwie tröstete sie der Gedanke, dass diese Welt sich kein bisschen verändert hatte. Außer dass Julia heiratete und Lila nicht dabei sein würde.
Julia war während ihrer ganzen Schul- und Collegezeit ihre beste Freundin gewesen, und auch später noch hatten sie Kontakt gehalten. Sie hatten sich ihre Hochzeiten und ihre Scheidungen tausendmal bis in die kleinsten, absurdesten Einzelheiten ausgemalt. Alles sehr albern, aber jetzt presste es ihr das Herz zusammen.
Sie hörte, wie Zal die Dusche anstellte. Einer der Sicherheitsleute meldete sich bei ihr, um ihr mitzuteilen, dass alles ruhig war. Offiziell durfte sie jetzt schlafen.
Lila zog ihren Hosenanzug aus. Als sie ihn in den Schrank hängte, fand sie dort drei ganz ähnliche Anzüge auf Plastikbügeln. »Reizend«, sagte sie laut und ließ sie hängen. Sie duschte kurz und inspizierte dann sorgfältig all die Partien, wo ihre Haut auf die biometallenen Strukturen transplantiert worden war, die sie gerettet hatten. Ein paar Stellen waren vom langen Sitzen oder von scheuerndem Stoff rot und entzündet, aber alles nicht so schlimm, dass sie es melden müsste. Ihre körpereigenen medizinischen Systeme informierten sie, dass sie Schlaf brauchte. Sämtliche Adaptionsprozesse schritten im erwarteten Tempo voran. Ihr Körper mochte ja zur Hälfte aus Metall und Synthetik bestehen, aber das änderte nichts an seinen Grundbedürfnissen.
Lila war es gewohnt, ihren Körper regelmäßig zu kontrollieren und zu warten. Sie war schnell und effizient im Umgang mit den Geräten in ihrem kleineren Koffer – einem kleinen Instandhaltungsset. Als Letztes war das Energiediagnosegerät dran, das die Funktion ihres Reaktors testete. Er arbeitete problemlos. Der faustgroße Tokamak würde sie überdauern, wenn ihn niemand in die Luft jagte.
Sie putzte sich die Zähne. Ehe sie ruhig schlafen konnte, galt es noch, das medizinische Zubehör, das sie unter der Oberschenkelpanzerung an beiden Beinen trug, durchzuchecken und zu reinigen. Und anschließend die Schusswaffen. Alles funktionierte geräusch- und reibungslos. Ihre Systeme zeigten allesamt grünes Licht.
Sie schlüpfte mit den langsamen Bewegungen eines Zen-Rituals in schwarzes Militärdrillichzeug, legte den Oberkörperpanzer mit der dritten Schusswaffe und anderen Ausrüstungsgegenständen an, bürstete dann ihr nasses Haar aus und legte sich auf den Bettüberwurf aus handbemalter Seide. Auf der weichen Unterlage fühlten sich ihre Stiefel klobig und unbequem an, aber das ließ sich nicht ändern.
Sie hörte Zal aus der Dusche kommen – das hat ja ewig gedauert, dachte sie, ganz schön pingelig, diese Elfen –, dann war Stille.
Julia heiratet, murmelte Lila und rollte sich ein. Sie wollte schlafen, weil es eine Fluchtmöglichkeit war, aber gleichzeitig wollte sie nicht schlafen, weil Schlaf Träume bedeutete. Sie lag still da. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, also machte sie sie zu, um ihnen Ruhe zu gönnen.
Zwei Stunden später wachte sie von einem merkwürdigen, leisen Geräusch auf. Sie war sofort ganz da, obwohl sie eben noch tief geschlafen hatte. Das einzige Symptom des jähen Übergangs war das
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