Liliane Susewind – Ein kleines Reh allein im Schnee (German Edition)
Mutter zu.
»Lasst uns den fällen!«, sagte Akeele.
Oma nickte. Bevor sie aber ihre Axt benutzen konnte, hielt Lilli sie auf. »Warte! Wir müssen den Baum erst fragen!«
Akeele und Isabell blickten Lilli irritiert an. Oma lächelte allerdings, ebenso wie Lillis Vater.
Lilli trat nun an den Baum heran, berührte seine schönen Zweige und schloss die Augen. »Hallo«, flüsterte Lilli. »Möchtest du unser Weihnachtsbaum sein? Wir würden uns sehr freuen! Dafür müssen wir dich allerdings fällen und mitnehmen. Wäre das okay?«
Lilli horchte mit all ihren Sinnen, und dann wusste sie die Antwort: Es war der Tanne eine ganz besondere Freude, ihr Weihnachtsbaum sein zu dürfen. Dafür ließ sie sich gern fällen. Aber sie war dankbar, dass Lilli sie gefragt hatte.
Woher Lilli so genau wusste, dass dies die Antwort der Tanne war, hätte sie niemals erklären können. Es war Teil ihrer Gabe, sich in Pflanzen hineinfühlen und mit ihnen Kontakt aufnehmen zu können. Pflanzen waren ebenso lebendige Wesen wie Menschen und Tiere.
»Sie möchte sehr gern unser Weihnachtsbaum werden!«, verkündete Lilli nun. Ihre Eltern und Oma atmeten auf.
Akeele und Isabell blickten Lilli indessen mit einer Mischung aus Faszination und Überraschung an. Sie wussten zwar von Lillis Fähigkeiten, aber es war offenbar etwas ganz Besonderes, sie auf diese Weise vor Augen geführt zu bekommen.
Isabell wirkte mit einem Mal sehr nachdenklich. »Eigentlich sollte man jeden Weihnachtsbaum vorher um Erlaubnis bitten. Oder sich zumindest hinterher bei ihm bedanken!«, sagte sie nun mit bewegter Stimme.
Lillis Mutter lächelte. »Das stimmt.« Dann klatschte sie in die Hände. »Und jetzt lasst uns diesen Baum fällen!«
Das ließ Lillis Oma sich nicht zweimal sagen. Mit kräftigen Schlägen schwang sie nun die Axt durch die Luft, und wenig später lag die kleine Tanne im Schnee. Einen Augenblick lang hielten alle beeindruckt inne, dann zogen Lillis Vater und Akeele den Baum durch den Schnee zur Hütte zurück. Die anderen folgten ihnen mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen. Lilli hielt wieder die Hand ihrer Mutter und hatte auf einmal das Gefühl, dass dies das beste Weihnachtsfest aller Zeiten werden würde.
Wie alles begann …
»Jingle bells, jingle bells, jingle dingsbums hey …«, klang es fröhlich durch die Berghütte. Die Susewinds und die Sturmwagners waren dabei, die frisch gefällte Tanne neben dem Kamin im Wohnzimmer aufzustellen und sie zu schmücken. Da sie keinen richtigen Weihnachtsschmuck hatten, holte jeder etwas herbei, das er für hübsch hielt, und brachte es am Baum an. So baumelten an den Zweigen bunte Haarbänder von Lilli, blinkende Manschettenknöpfe von Akeele und mehrere Schnürsenkel von Oma, die sie wie Lametta über die Zweige gehängt hatte. Zwei feine Seidenschals von Isabell schlangen sich um den Stamm des Baumes, und Herrn Susewinds liebster Schneebesen, den er extra von zu Hause mitgebracht hatte, steckte dekorativ zwischen zwei Tannenzapfen. Bonsai bestand darauf, dass sein rosafarbener Prinzessinnen-Strampler ebenfalls an den Baum gehängt wurde. Frau von Schmidt hingegen wollte ihren Anzug weiterhin tragen. Sie lag noch immer auf dem Kaminsims und strengte sich sehr an, so tief einzuschlafen, dass sie erst im Frühling wieder aufwachte.
Jesahja hatte einige farbige Seiten aus einem seiner Bücher herausgerissen und daraus Sterne gebastelt, die nun wie hübsche kleine Farbkleckse überall auf den Ästen des Weihnachtsbaumes saßen. Auf der Spitze der Tanne thronte in einer von Oma gebastelten Pappkonstruktion das Handy von Lillis Mutter.
»Ich habe noch nie einen schöneren Baum gesehen!«, erklärte Isabell, als sie fertig waren, und betrachtete ihr gemeinsames Werk feierlich.
Da hörten sie Lillis Vater aus der Küche rufen: »Der Tee ist fertig!« Im nächsten Moment kam er schon mit einem großen Tablett ins Wohnzimmer. »Rotbuschtee für alle, und Salbeitee für Isabell!«
Isabell hatte heute mehrmals über ein unangenehmes Kratzen im Hals geklagt. Da Lillis Vater sich sehr gut mit Kräutern auskannte, wusste er, was ihr helfen würde. Einen kleinen Vorrat an Kräutern hatte er auf jeder Reise dabei. Und falls irgendetwas fehlte, gab es einen sehr guten kleinen Kräuterladen im Dorf – das hatte Oma erzählt.
Lilli setzte sich nun zu Jesahja und Bonsai auf den großen Teppich vor dem Kamin, während ihr Vater ihr einen Becher mit dampfendem Tee reichte.
Bonsai betrachtete
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