Liliane Susewind – Ein kleines Reh allein im Schnee (German Edition)
Himmel und tauchten die Nacht in ein sanft schimmerndes Licht.
Da begann Lillis Oma zu singen: »Stille Nacht, heilige Nacht …« Sie hatte eine schöne, tiefe Stimme und sang das Lied ganz ernst und feierlich.
Nach und nach fielen die anderen ein und sangen mit. Diesen Text schien jeder zu kennen.
Es war gleichgültig, dass noch gar nicht Weihnachten war, denn heute Nacht fühlte es sich genauso an.
Die Katastrophe
Am darauffolgenden Morgen wurde Lilli von einem leisen Wuffen geweckt. »Lilli, aufwachen! Irgendwas ist los!« Bonsais feuchte Schnauze wischte über ihre Nase. »Dein Vater guckt total besorgt aus der Wäsche und läuft immer wieder zu den Freund-Leuten ins Zimmer!«
Lilli öffnete die Augen. Bonsai saß neben ihrem Kopfkissen und hechelte aufgeregt. »Ich glaub, die Freund-Leute sind schlecht drauf.«
Lilli richtete sich auf. »Jesahjas Eltern?«
Jesahja fuhr in seinem Bett kerzengerade in die Höhe. »Was?«, ächzte er und schien erst in diesem Moment richtig wach zu werden. »Wer …« Verwirrt sah er sich um und rieb sich die Augen. »Hat jemand Jesahja gesagt?«
»Bonsai meint, irgendwas ist mit deinen Eltern los.«
Das weckte Jesahja endgültig auf. Schnell sprang er aus dem Bett und lief, gefolgt von Lilli, nach unten.
Im Wohnzimmer saßen Lillis Eltern und Lillis Oma mit betrübten Mienen an dem großen Holztisch. »Oh, hallo, ihr zwei!«, rief Frau Susewind. »Heute werden wir wohl leider nicht Ski fahren können.«
»Wieso nicht?« Lilli spürte leise Enttäuschung in sich aufsteigen.
»Isabell und Akeele sind krank«, teilte Lillis Vater ihnen mit. »Sie haben sich eine schlimme Erkältung eingefangen und müssen unbedingt im Bett bleiben. Mindestens für einen, wenn nicht für zwei Tage.« Lillis Vater wusste über solche Dinge sehr gut Bescheid, denn er war Heilpraktiker. Er hatte zwar seit Lillis Geburt nicht mehr in seinem Beruf gearbeitet, aber bei allem, was mit Krankheiten und Kräutern zu tun hatte, kannte er sich besser aus als jeder andere.
»Ich gucke mal nach ihnen«, sagte Jesahja ernst und verschwand im Zimmer seiner Eltern.
Da ertönte eine durchdringende Katzenstimme. »Unmöglich! Einfach unmöglich!« Frau von Schmidt sprang auf den Tisch. Ihr entrüsteter Gesichtsausdruck und ihre zurückgeklappten Ohren ließen nichts Gutes erahnen. »Meine beiden Dosenöffner liegen völlig abgeschlafft in ihren Betten herum! Diese Tranigkeit ist wahrhaftig ein Skandal! Ich hätte längst mein Frühstück bekommen müssen!«
»Die beiden sind krank«, erklärte Lilli. »Sie haben eine Erkältung.«
»Eine Erkältung ?« Die Katze stutzte. »Soll das heißen, ihnen ist kalt geworden?«
»Ähm, ja, so könnte man es sagen.«
»Oh, das ist natürlich etwas anderes.« Frau von Schmidts Miene wurde schlagartig weich. »Wenn sie frieren, verstehe ich die einhergehende Tragik besser als jeder andere. Selbstverständlich müssen sie mich dann nicht bedienen.« Sie seufzte tief. »Was für ein schreckensvolles Trauerspiel! Die garstige Frostigkeit hat nun auch mein Personal darniedergestreckt. Wohin soll das alles noch führen?«
Das konnte Lilli ihr auch nicht sagen. Stattdessen schlug sie vor: »Ich kann Ihnen gern Ihr Frühstück servieren, wenn Ihnen das recht wäre.«
Frau von Schmidt wackelte zustimmend mit dem Kopf. »Das wäre in der Tat eine akzeptable Lösung.« Sie hüpfte vom Tisch und folgte Lilli in die Küche. »Nach meiner Mahlzeit werde ich mich dann wieder in Winterschlaf begeben. Ich mache bereits erstaunliche Fortschritte und habe gestern so lange geschlafen wie niemals eine Schnurrdame zuvor!«
»Bestimmt«, gab Lilli zurück, während sie Frau von Schmidt das Futter hinstellte.
Da hörte sie plötzlich ein seltsames Geräusch. Es klang wie ein entferntes Grollen, das schnell lauter wurde und näher zu kommen schien. Erschrocken rannte Lilli ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern und ihre Oma am Fenster standen und mit entsetzten Gesichtern hinausstarrten.
»Was ist denn los?«, fragte Lilli und spürte Angst in sich aufkeimen. Das Grollen wurde lauter und lauter. Außerdem fühlte es sich nun so an, als würde der Boden beben! »Ist das ein Erdbeben?«
»Nein.« Ihre Mutter zog Lilli an sich. »Eine Lawine!«
Als Lilli nun aus dem Fenster schaute, sah sie es auch: Vom nahe liegenden Berggipfel stürzten tosende Schneemassen ins Tal! Wie eine gigantische weiße Welle zog die Lawine alles mit sich, was ihr in den Weg kam, und wurde dabei größer und
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