Liliane Susewind – Ein kleines Reh allein im Schnee (German Edition)
Arm. »Hallo!«, piepste sie. »Du hast gerufen?«
»Ja. Bist du ganz allein?« Lilli blickte sich suchend um. Normalerweise kamen immer ganze Schwärme, wenn sie rief. Aber außer der Schwalbe zeigte sich kein einziger Vogel.
»Alle verstecken sich!«, zirpte die Felsenschwalbe. »Ein großes Unglück ist passiert! Alle haben Angst.«
Das konnte Lilli gut verstehen. »Danke, dass du trotzdem gekommen bist.« Der immer stärker fallende Schnee war für die Vögel sicherlich ein zusätzlicher Grund, nicht zu fliegen. »Ich möchte dich etwas fragen.«
»Ja?« Die Schwalbe sah sie neugierig an.
»Weißt du, ob irgendjemand unter dem Schnee verschüttet liegt?«
Die Schwalbe legte den Kopf schief. »Wie soll ich sehen, ob jemand unter dem Schnee ist?«
»Natürlich.« Lilli senkte den Kopf. »Das kannst du gar nicht wissen.« Was hatte sie eigentlich erwartet?
»Aber …«, piepste die Schwalbe.
Lillis Kopf fuhr hoch. »Ja?«
»Hier läuft ein kleines Augenschön herum, das ganz allein zu sein scheint.«
»Ein Augenschön?«
»Ja, ein Augenschön mit Punkterücken.«
Lilli zog die Stirn in Falten. Manchmal war es wirklich nicht leicht, die Namen, die Tiere sich gegenseitig gaben, zu verstehen. Schnell übersetzte sie Jesahja, was der Vogel gesagt hatte.
Jesahja überlegte. »Vielleicht ein anderer Vogel? Manche Vogelarten haben gepunktete Rücken … und schöne Augen.«
Da zirpte die Schwalbe: »Das Augenschön hat immer wieder laut gerufen. Aber ich konnte es nicht verstehen. Es sprach nicht meine Sprache.« Der Vogel breitete die Flügel aus, um davonzufliegen.
»Wo ist es?«, fragte Lilli hastig. »Wo ist das Augenschön jetzt?« Es klang, als befand sich dieses Tier – was auch immer es war – in Not.
»Drüben am Waldrand«, erwiderte die Schwalbe. »Ich habe es aber schon länger nicht mehr gehört. Vielleicht ist es jetzt woanders.« Damit flog die Schwalbe im dichten Schneetreiben davon.
»Wir müssen am Waldrand suchen«, erklärte Lilli Jesahja und gab ihrem Vater Bescheid, dass sie dorthin gehen würden. Ihr Vater ermahnte sie, vorsichtig zu sein und in Sichtweite zu bleiben, dann rief er wieder »Hallo, ist da jemand?« in alle Richtungen. Offenbar hatte er noch nichts entdeckt, ebenso wenig wie Bonsai, der weiterhin hochkonzentriert herumlief und den Schnee abschnüffelte.
Lilli und Jesahja gingen zum Waldrand. Die Lawine hatte zahllose Bäume unter sich begraben oder einfach umgeknickt. Die Bäume taten Lilli furchtbar leid. Überall lagen abgebrochene Stämme und große Holzsplitter herum, und es herrschte ein gruseliges Bild der Zerstörung. Aber Lilli konnte für die Bäume nichts tun.
»Wonach suchen wir?« Jesahja rieb sich mit den Handschuhen über die Wangen. Es war furchtbar kalt.
»Ich weiß es nicht genau«, gab Lilli zu. »Die Schwalbe sagte, dass dieses Tier noch klein wäre und dass sie seine Rufe nicht verstanden hat, weil es kein Vogelisch sprach. Das Tier, das wir suchen, kann also kein Vogel sein.«
»Richtig«, stimmte Jesahja zu.
Lilli ging ein paar Schritte zwischen den abgebrochenen Bäumen umher. Wie sollten sie in diesem Chaos jemanden finden?
Da hörte Lilli ein leises Fiepen. Ihr Kopf fuhr herum. »Was war das?«
Jesahja schien es auch gehört zu haben. Lauschend drehte er sich um die eigene Achse. »Da! Da ist es wieder!«
Lilli schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Geräusch. Kaum, dass sie das getan hatte, hörte sie mehr als nur ein Fiepen. Sie hörte ein leises Wimmern.
»Mama …«, wimmerte eine kleine Stimme. »Wo bist du?«
Mit vorsichtigen Schritten ging Lilli in die Richtung, aus der die Stimme kam. Jesahja folgte ihr.
»Mir ist kalt«, wimmerte die Stimme. »Ich hab Angst. Mama?«
Lilli ging neben einem halb umgestürzten Baumstamm in die Knie und schaute darunter. Ihr stockte der Atem. Vor ihr lag ein kleines Bündel im Schnee! Es war hellbraun, hatte riesengroße Ohren, einen gepunkteten Rücken und wunderschöne Augen.
Es war ein Rehkitz. Ein kleines Rehmädchen. Das sah Lilli sofort, obwohl sie nicht hätte sagen können, woran sie das erkannte.
Das Kitz blickte Lilli mit seinen großen, braunen Augen erschrocken an. »Muss ich jetzt weglaufen?«, fragte es. »Ich sollte am besten weglaufen, oder?«
»Nein, schon in Ordnung«, sagte Lilli behutsam und kniete sich vor das Kitz.
Jesahja schnappte hinter ihr nach Luft. Offenbar hatte er das Tier auch entdeckt.
»Aber«, sagte das Rehkind mit hoher Piepsstimme,
Weitere Kostenlose Bücher