Liliane Susewind – Ein kleines Reh allein im Schnee (German Edition)
doch er sprach nicht mit Lilli darüber.
Da trillerte plötzlich eine hohe Stimme gleich neben Lillis Ohr. »Hey!« Lillis Kopf fuhr herum. Neben ihr flog ein Schneefink! »Ihr könnt im Schnee nicht so richtig gut sehen, oder?«, erkundigte sich der grauköpfige kleine Vogel.
»Wieso?«, fragte Lilli verwundert. Der Himmel war stahlblau und die Sicht glasklar!
»Ihr habt offenbar keinen guten Überblick«, zirpte ein zweiter Schneefink, der gerade auf der anderen Seite des Schlittens auftauchte.
»Weshalb sagt ihr das?«
Der Vogel trillerte: »Ihr steuert auf einen Abhang zu.«
Lilli wurde es heiß und kalt zugleich. Vor dem Schlitten sah sie nichts als weiße Weite. Aber das täuschte wohl. »Stopp!«, schrie sie und riss den Arm in die Höhe.
Die Hirsche hielten auf der Stelle an.
»Was ist denn los?« Lillis Vater blickte sich verdutzt um. »Was haben die Vögel gesagt?«
»Wir fahren auf einen Abhang zu!«, antwortete Lilli mit bebender Stimme.
Ihr Vater wurde bleich. »Ach du Sch…« Er schluckte schwer. »Ich sehe gar keinen Abhang! Ich seh nur Schnee!«
Lilli fröstelte. »Das ist das Problem.«
Der erste Schneefink setzte sich auf Herrn Susewinds Schulter und schaute Lilli freundlich an. »Ihr fahrt besser nicht weiter. Weiterfahren wäre schlecht.«
Lilli nickte zittrig und guckte sich hilflos um. Alles sah irgendwie gleich aus! »Wo –«
»Wir können euch sagen, wo ihr langfahren sollt«, schlug der Schneefink vor.
Lilli stieß erleichtert einen Seufzer aus. »Das wäre super. Wir wollen ins Dorf!«
Der zweite Schneefink flatterte vor Lillis Nase. »Ihr müsst umdrehen und da hinten, hinter dem großen Baum, den Berg runterfahren. Da ist es ungefährlich.«
Lilli übersetzte für ihren Vater und rief dann den Hirschen zu, dass sie umdrehen sollten. Mit ein wenig Mühe wendeten die Tiere, zogen sie ein Stück den Berg hinauf und hinter dem großen Baum wieder hinab. Die beiden Schneefinken sagten Lilli dabei genau, was sie tun sollten, und führten sie sicher auf den neuen Pfad. Von dort konnte Lilli nun sehen, dass sie tatsächlich auf einen steilen Abhang zugesteuert waren, ohne es zu merken. Lillis Herz begann heftig zu klopfen. Ohne die Vögel wären sie mitsamt den Hirschen und dem Schlitten in die Tiefe gestürzt …
»Wir bleiben bei euch, bis ihr unten angekommen seid«, piepste der Schneefink, und Lilli war ihm und seinem Freund unendlich dankbar.
Mit präzisen Anweisungen navigierten die Vögel sie nun den Berg hinunter, und Lilli entspannte sich wieder etwas. Wenig später fuhr der Schlitten um eine Biegung, und das Dorf im Tal lag direkt vor ihnen.
»Da ist es!«, japste ihr Vater. »Wir sind gleich da.«
Im selben Augenblick zirpten die Schneefinken: »Den Rest schafft ihr allein!« und flogen mit einem kurzen »Macht’s gut!« davon.
»Auf Wiedersehen!«, rief Lilli und winkte ihnen mit einem warmen Gefühl im Bauch nach.
Der Schlitten glitt schnell über den Schnee und brachte sie dem Dorf näher und näher. Doch je näher sie kamen, desto mehr fiel Lilli auf, wie still es war. »Wo sind denn die Leute?«, fragte sie verunsichert. »Wieso ist es so ruhig?«
Sie bogen in die erste Dorfstraße ein. Sie war menschenleer! Das Schnauben der Hirsche war das einzige Geräusch, das weit und breit zu hören war.
»Hier ist alles wie ausgestorben!«, stellte Lilli mit zunehmender Verwirrung fest.
Ihr Vater lächelte jedoch. »Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist?«
»Was heute für ein …«, wiederholte Lilli, dann verstummte sie. Sie hatte in dem ganzen Trubel tatsächlich völlig vergessen, was für ein Tag es war. »Es ist Heiligabend!«, flüsterte sie.
»Ja, und vier Uhr am Nachmittag«, fügte ihr Vater nach einem Blick auf seine Armbanduhr hinzu. »Ich schätze, dass viele Dorfbewohner in der Kirche sind. Oder sie sitzen mit ihren Familien bei Kaffee und Kuchen zusammen und warten auf die Bescherung. Deswegen ist niemand auf der Straße.«
Das leuchtete Lilli ein. »Aber wie sollen wir dann an die Kräuter kommen?«
»Wir fahren erst mal zur Hauptstraße.« Ihr Vater lenkte den Schlitten um eine Abzweigung. »Da vorn ist sie schon!«
Von kräftigem Hirschschnauben begleitet, bogen sie kurz darauf in die Hauptstraße ein. Während sie an den hübschen Häusern des Dorfes vorbeiglitten, bemerkte Lilli nun einige Leute, die sie mit verblüfften Mienen durch ihre Fenster beobachteten. Gleich darauf traten ein paar Dorfbewohner aus ihren Häusern und
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