Liliane Susewind – Ein kleines Reh allein im Schnee (German Edition)
schönen Tier. Neben dem Reh stand ein älteres Kitz. Sobald Schnapps die beiden erreichte, schubste das ältere Kitz sie mit einem herben Stoß an.
»Das muss Schubbs sein …«, murmelte Lilli.
Nun traten immer mehr Rehe und Hirsche zwischen den Bäumen hervor und näherten sich mit vorsichtigen Schritten. Sie taten dies völlig lautlos und mit einer Würde, die Lilli eine Gänsehaut machte.
»Das ist einfach unglaublich«, stieß Lillis Mutter gepresst hervor. »Sie sind so schön …«
Herr Susewind nahm ihre Hand. Er schien nicht weniger bewegt zu sein. Lilli war ebenfalls gerührt. So viele waren gekommen! Bestimmt ein Dutzend Rehe und fünf große Hirsche!
Da erschien ein weiterer Hirsch am Waldrand. Er war noch größer und schöner als die anderen und schien vor Kraft nur so zu strotzen.
»Onkel Rook!«, piepste Schnapps in höchster Tonlage und rannte zu dem großen Hirsch. Dieser rieb dem Kitz liebevoll mit der Schnauze über das Fell. Dann richtete sich sein Blick auf Lilli.
Lilli musste schlucken. Dieser Hirsch war noch beeindruckender als die anderen, und als er nun zu ihr herüberkam, traten seine Muskeln bei jedem Schritt deutlich hervor. Die anderen Rehe und Hirsche wichen ehrerbietig vor ihm zurück.
»Menschenmädchen«, sagte er mit tiefer Stimme und blieb vor Lilli stehen. »Du hast uns gerufen.«
»Ja«, antwortete Lilli leicht zittrig.
»Wieso verstehen wir dich?«
»Ich habe eine besondere Gabe«, erklärte Lilli scheu. »Ich kann mit Tieren sprechen.«
Der Hirsch schaute sie forschend an. »Gut«, sagte er dann schlicht. »Ich bin Rook.«
»Ich bin Lilli.«
»Was möchtest du von uns?«
»Ich brauche eure Hilfe«, erwiderte Lilli und begann, die ganze Geschichte zu erzählen: von Reenas Rettung und der Entzündung ihrer Wunde bis hin zu der Idee, mit dem Schlitten ins Dorf hinunterzufahren. Schnapps fiel ihr immer wieder ins Wort und rief »Genau!« oder »Das stimmt!«, bis sie nach dem zuckenden Ohr ihrer Cousine Schubbs schnappte, sich darin festbiss und nicht mehr dazwischenreden konnte.
»Du willst Reena helfen«, fasste Rook schließlich zusammen und sah Lilli eindringlich an. »Du bist ein guter Mensch.«
Lilli spürte, wie ihre Wangen sich röteten. »Ich will auch meinem Freund Jesahja helfen«, brachte sie verlegen hervor. »Nicht nur Reena. Beide brauchen Hilfe.«
»Geht es Reena sehr schlecht?«, fragte das Reh, das Schnapps als Tante Ruuni begrüßt hatte. »Tut ihr das Bein weh?«
»Sie schläft meistens«, antwortete Lilli. »Wenn wir sie ins Dorf bringen könnten, würde es ihr bestimmt bald bessergehen!«
»Selbstverständlich werden wir tun, was wir können, um dich zu unterstützen«, sagte Rook nun. »Wo ist dieser Schlitten, von dem du gesprochen hast?«
»Im Stall.« Nun fiel Lilli ein, dass sie den Schlitten erst einmal aus dem eingeschneiten Stall herausbekommen mussten, bevor es losgehen konnte.
Ihr Vater nickte ihr zu, als habe er sein Stichwort erhalten. »Ich fange dann mal an, die Tür freizuschaufeln«, sagte er und zückte den Spaten.
Eine halbe Stunde später stand der alte Pferdeschlitten vor dem Stall. Lillis Vater hatte vor Anstrengung einen knallroten Kopf. Aber auch Lilli, ihre Mutter und Oma hatten beim Schaufeln und Tragen mitgeholfen und waren völlig durchgeschwitzt. Jesahjas Eltern standen in ihren Pyjamas am Fenster und beobachteten alles. Seit Lilli ihnen erzählt hatte, was los war, hatte niemand sie dazu bewegen können, wieder ins Bett zu gehen. Sie machten sich große Sorgen um ihren Sohn.
Rook nahm den Schlitten nun genau in Augenschein. »Wir sollen diesen Wagen … ziehen?«
»Ja«, bestätigte Lilli und erklärte den Hirschen und Rehen nun genau, wie das Ganze funktionierte, während Oma das Pferdegeschirr heranschleppte und am Schlitten befestigte. »Wir brauchen insgesamt sechs von euch«, ergänzte Lilli. »Sechs Hirsche wären ideal …«
Rook blickte die anderen fünf Hirsche fragend an und sagte dann: »Wir werden dir helfen.«
Lilli seufzte erleichtert. Zum Glück waren genau sechs Hirsche gekommen! Zusammen würden sie den Schlitten bestimmt ohne Probleme ziehen können.
»Ich will auch ziehen!«, quäkte Schnapps, die das Ohr ihrer Cousine mittlerweile losgelassen hatte.
»Ich auch!«, fiel Schubbs sofort ein und schubste Schnapps grob zur Seite. Diese taumelte, grummelte wütend und biss Schubbs mit einem mächtigen Schnapper in den Schwanz.
»Wir haben schon genügend Zugtiere«, erklärte Lilli
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