Liliane Susewind – Ein kleines Reh allein im Schnee (German Edition)
den beiden zankenden Rehkitzen, die jedoch nicht zuhörten, sondern sich nun gegenseitig anrempelten und nacheinander schnappten.
Rook beachtete die Kitze nicht, sondern ging zum Kopf des Schlittens. »Ich ziehe hier vorn.«
»Ja, gern!« Lilli übersetzte für ihre Familie.
Oma eilte zu Rook und legte ihm das Geschirr an, was der große Hirsch mit skeptischer, aber geduldiger Miene über sich ergehen ließ. Dann waren die anderen dran, bis schließlich alle sechs Tiere angeschirrt waren.
Lillis Vater holte unterdessen Reena aus der Hütte. Er hatte das Reh in eine dicke Decke gehüllt und platzierte es nun behutsam auf dem Schlitten. Rook, Ruuni und Riike betrachteten Reena beunruhigt und riefen »Wie geht es dir?«, aber Reena antwortete nur mit einem gequälten »Ich bin müde …«
Das brachte Schnapps dazu, mit der Zankerei aufzuhören und zu ihrer Mutter zu laufen. »Mama …« Traurig stand sie vor dem Schlitten. »Machst du sie wieder gesund, Lilli?« Flehend sah sie Lilli an.
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Lilli.
Frau Susewind trat hinter ihre Tochter und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Du willst bestimmt mit deinem Vater mitfahren, oder?«
Lilli drehte sich zu ihr um. »Natürlich! Papa kann ja nicht mit den Rehen sprechen und ihnen Anweisungen geben! Er braucht mich!« Für Lilli war es selbstverständlich, dass sie mitfuhr.
Ihre Mutter strich ihr eine Locke hinters Ohr. »Das dachte ich mir.« Sie lächelte. »Du wirst doch gut auf dich aufpassen, ja? Du gehst keine unnötigen Risiken ein?«
Lilli schüttelte den Kopf.
»Gut.« Ihre Mutter gab ihr einen Kuss. »Ich vertraue dir.«
Da kam Akeele in Wintermantel und Pyjama aus der Hütte. Auf dem Arm trug er Jesahja. Er hatte ihm den Schneeanzug angezogen und ihn zusätzlich in seine Bettdecke gehüllt. Vorsichtig legte er Jesahja neben Reena auf dem Schlitten ab. Jesahja hatte noch immer eine tiefrote Gesichtsfarbe und Schweißperlen auf der Stirn. Sein Fieber war offenbar noch genauso hoch wie zuvor. Von all dem, was um ihn herum geschah, schien er außerdem kaum etwas mitzubekommen.
Lilli hatte einen dicken Kloß im Hals. Jesahja so zu sehen war ungewohnt und schwer für sie. Normalerweise war er immer derjenige, der unerschütterlich an ihrer Seite stand und keine Angst kannte. Doch dieses Mal musste Jesahja selbst gerettet werden.
»Helft meinem Jungen«, sagte Akeele und schaute Lilli und ihren Vater bittend an.
Lilli konnte nur stumm nicken. Akeeles Blick machte ihr den Ernst der Lage erneut bewusst.
Herr Susewind antwortete: »Wir tun alles in unserer Macht Stehende, mein Freund.« Dann umarmte er Akeele, schwang sich auf den Kutschbock und nahm die Zügel in die Hand. »Kommst du?«, fragte er seine Tochter. »Hier ist noch ein Platz für dich.«
Das ließ Lilli sich nicht zweimal sagen. Schnell kletterte sie neben ihn und nickte ihm entschlossen zu.
»Passt auf euch auf!«, rief Oma, und dann ging es los. Der Schlitten stockte zuerst ein wenig und musste von Lillis Mutter, Akeele und Oma angeschoben werden, aber dann nahm er rasch Fahrt auf und glitt ohne Probleme über den festen Neuschnee. Die Hirsche legten sich schwer ins Zeug und zogen den Schlitten emsig den Pfad hinunter.
»Wir bringen dich zu deiner Medizin!«, rief Rook Reena über die Schulter hinweg zu, und obwohl Reena nicht antwortete, schien dieser Gedanke die anderen Tiere ebenfalls anzutreiben.
Lillis Vater saß mit leuchtenden Augen auf dem Kutschbock. »Das ist der helle Wahnsinn!«, rief er. »Ich fahre einen Hirschschlitten!« Er lachte. »Davon hätten wir ein Foto machen sollen!«
Seine Begeisterung steckte Lilli an. Plötzlich hatte sie ganz fest das Gefühl, dass alles gut werden würde. Sie würden Jesahja und Reena ins Dorf bringen, und dort würde den beiden geholfen werden. Eigentlich konnte jetzt gar nichts mehr schiefgehen …
Das Weihnachtswunder
Die Hirsche trabten eifrig über den Schnee und zogen den großen Schlitten in raschem Tempo talwärts. Lilli musste ihnen zwar hin und wieder ein paar Anweisungen geben, weil eines der Tiere nicht geradeaus lief oder die Zügelkommandos ihres Vaters nicht verstand. Aber ihre kleine Zugmannschaft hatte den Bogen bald heraus und brachte sie so schnell vorwärts, wie Lilli es kaum für möglich gehalten hätte.
Ihr Vater warf Jesahja und Reena, die hinter ihnen auf dem Schlitten lagen, indessen immer wieder beunruhigte Blicke zu. Vor allem Jesahja schien ihm Sorge zu bereiten,
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