Liliane Susewind – Tiger küssen keine Löwen (German Edition)
regelrecht in den Ohren. Sie war es nicht gewöhnt, mit Raubkatzen zu sprechen, und musste sich erst an den warmen, leicht grollenden Klang gewöhnen. »Hallo, ich bin Lilli«, erklärte sie der Tigerin und hielt die Hand in die Höhe, damit Samira ihren Geruch aufnehmen konnte.
»Vorsicht!«, warnte Finn.
Lilli ahnte, was er dachte. Samira war eine Tigerin mit scharfen Reißzähnen und Krallen, und kein friedlicher Elefant. »Sie wird mir nichts tun«, versicherte sie. Woher sie ihre Sicherheit nahm, wusste sie selbst nicht. Sie spürte einfach, dass für sie von der Tigerin keinerlei Gefahr ausging.
Sie trat näher an das Gitter heran, und die Tigerin reckte schnuppernd die Nase in die Luft. »Samira«, begann Lilli, »du kannst mich verstehen, weil ich eine besondere Gabe habe. Ich kann mit Tieren sprechen.«
Samiras Ohr zuckte. Sie blickte Lilli mit ihren klugen Augen lange an. Dann sagte sie: »Vielleicht kannst du uns helfen.«
»Uns?«
»Ich habe eben gehört, wie du über Shankar gesprochen hast. Du hast recht. Er ist traurig.«
»Aber warum denn?« Lilli trat noch näher.
Finn, der gleichzeitig Lilli, die Raubkatze und die Zoobesucher im Auge behielt, zischte: »Pass auf!« Doch dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Sorry. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, dass Raubtiere dir nichts tun.«
Lilli nickte.
»Was sagt sie?«, fragte Finn.
»Ich übersetze es dir später.« Lilli lehnte ihren Kopf gegen die Gitterstäbe. »Samira, warum ist Shankar traurig?«
»Wir sind beide traurig«, offenbarte Samira, »weil wir nicht zusammen sein können.«
Lilli runzelte die Stirn. »Ihr möchtet zusammen sein? Seid ihr etwa ineinander verliebt?«
Samira sah sehnsüchtig zum Revier des Löwen hinüber. »Ja, das kann man so sagen. Shankar lebt schon seit einiger Zeit im Käfig neben mir. Wir mochten uns von Anfang an sehr, obwohl wir einander nur durch diese Stäbe sehen können.«
»Aber sprechen Tiger und Löwen denn die gleiche Sprache?«
»Alle Raubkatzen verstehen sich untereinander, auch wenn die einzelnen Sprachen ein wenig unterschiedlich sind.«
Finn schaltete sich ein. »Shankar guckt immer wieder zu uns rüber. Er hat wohl bemerkt, dass wir mit Samira reden. Die Zoobesucher kriegen aber nichts mit. Sie sind dermaßen fasziniert von Shankar, dass sie den Blick nicht von ihm abwenden können.«
Lilli übersetzte Samira, was Finn gesagt hatte.
»Ja, Shankar ist wirklich sehr schön«, stellte Samira mit weicher Stimme fest. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich ihn so mag. Er ist wirklich ein lieber Kerl. Ich wünschte nur, er würde aufhören, sich ständig derart in Pose zu werfen.«
»Weswegen macht er das? Will er bewundert werden?«
»Ja, er ist ein bisschen eitel und zieht gern die Show vom König der Tiere ab.«
Wie aufs Stichwort veränderte Shankar in diesem Moment seine Haltung. Er fauchte laut und fuhr mit der Pranke durch die Luft, als kämpfe er gegen einen unsichtbaren Angreifer. Die Menschen vor seinem Gehege raunten beeindruckt und ihre Kameras klickten wie wild.
Samira betrachtete Shankar liebevoll. »Weißt du, er hat dieses Heldengehabe gar nicht nötig. Ich mag ihn nicht wegen seines tollen Aussehens oder wegen seiner Showeinlagen. Ich mag ihn, weil er ein gutes Herz hat, und weil er mir abends, wenn alle Menschen weg sind, von Afrika erzählt. Ich bin in einem Zoo geboren worden, aber Shankar hat früher, bevor er gefangen wurde, in der Savanne gelebt.«
Lilli hörte aufmerksam zu. Samira schien Shankar sehr gern zu haben. Wenn sie von ihm sprach, wurde ihre Stimme sanfter und ihre Augen blitzten. Lilli konnte sich keinen Grund vorstellen, warum die beiden nicht in einem gemeinsamen Gehege leben konnten.
»Ich werde versuchen, euch zu helfen«, versprach sie der Tigerin entschlossen. »Ich gehe sofort zur Direktorin. Sie trifft hier die Entscheidungen.«
»Danke!«, seufzte die Raubkatze aus tiefster Tigerbrust.
Schlechte Neuigkeiten
»Kannst du mich zum Büro von Oberst Essig bringen?«, bat Lilli Finn. Sie wollte keine Zeit verlieren und die Direktorin sofort fragen, ob es für Samira und Shankar eine Möglichkeit gab, in ein gemeinsames Revier umzuziehen.
»Klar«, sagte Finn und bot Lilli seinen Arm an, damit sie sich unterhaken konnte. Auf dem Weg zum Büro von Frau Essig-Steinmeier erzählte Lilli ihm, was Samira ihr anvertraut hatte. Finn war überrascht. Er hatte noch nie davon gehört, dass ein Löwe und eine Tigerin ineinander verliebt waren.
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