Lilienblut
Irgendwann würde das alles hier vorbei sein. Sie konnte nur hoffen, dass das Irgendwann irgendwann ein Bald wurde.
Frau Fassbinder seufzte. »So, jetzt aber mal ein bisschen zügig. Wir alle wollen nach Hause. Sie werden gleich noch von einer Kollegin untersucht werden.«
»Was erlauben Sie sich!«, rief Franziska.
Aber der Einwurf prallte an der Beamtin ab. Sie sah nur
müde von einer zur anderen. »Das, was die Routine erfordert. Ich muss jetzt wissen, was Ihre Tochter am Samstag gemacht hat. Jede Einzelheit. Wem Sie, Sabrina, begegnet sind, was Beate Seiters und Sie gemacht haben, ob noch jemand mit dabei war, wer euch wo und wann gesehen hat. Fünfzehn Uhr zwölf. Wann kam der Bus in Andernach an?«
»Halb vier, zwanzig vor.«
»Und dann?«
Sabrina presste die Lippen aufeinander. In ihrem Kopf waberte eine große Seifenblase. Absolute Leere. Nichts. Natürlich konnte sie sich an jede noch so kleine Einzelheit erinnern. Wie sie das Schiff entdeckt hatte, das verbotene Zimmer, wie Beate dazugekommen war und Kilian sie überrascht hatte. Sie erinnerte sich an seine Enttäuschung über ihr heimliches Eindringen, seinen Ärger, den sie verstehen konnte, und den Kuss. Vor allem den Kuss. Den verstand sie nicht. Sie würde ihn nie begreifen können. Sie war eben doch kindisch und peinlich.
Und aus genau diesem Grund schwieg sie. Vor der Kommissarin, die sie mit ihrem Blick geradezu röntgen wollte, vor Herrn Tuch, der gerade etwas umständlich ein Bein über das andere schlug, und nicht zuletzt vor ihrer Mutter, die enttäuscht und entsetzt neben ihr saß.
»Dann bin ich zur Krippe.«
»Nicht zum Alten Krahnen?«
»Nein. Zur Krippe.«
»Und was wollten Sie da?«
Es war der kürzeste Weg zur Werth. Und es war die Erinnerung an diesen letzten Sommer, als die Tage lang und warm waren und Sabrina noch nicht das Gefühl hatte, sich für immer und ewig verkriechen zu müssen.
Sie spürte, wie Franziskas Hand nach ihrer tastete. »Das war doch eure Krippe, oder? Hast du an sie denken müssen und bist deshalb rüber?«
Jetzt konnte Sabrina die Tränen kaum noch zurückhalten. Ihre Mutter baute ihr eine goldene Brücke. Doch jedes Nicken,
jedes Wort der Zustimmung hätte bedeutet, sie weiter zu belügen.
»Franziska Doberstein, das ist nicht Ihre Vernehmung. Sie verlassen gleich den Raum«, sagte die Kommissarin, und ihre Stimme klang scharf wie eine Rasierklinge. »Sabrina Doberstein, Sie waren also an Krippe acht? Ist Ihnen auf dem Weg dahin etwas aufgefallen? Sind Sie jemandem begegnet?«
»Nein«, flüsterte Sabrina.
»Wann waren Sie wieder in Neuwied?«
»Gegen halb sechs.«
»Ich habe noch die Quittung von dem Tesafilm.« Franziska schaltete sich wieder ein und erntete einen ebenso gnadenlosen wie ungeduldigen Blick. »Sie hat eingekauft für uns. Und anschließend waren wir in der Rheinkrone essen. Dafür gibt es Zeugen. Danach sind wir mit meinem … mit einem Freund nach Hause gefahren. Sie haben ihn vorhin kennengelernt, Herrn Gerber. Um zwanzig Uhr …«
»Herr Kollege? Frau Doberstein möchte gerne draußen warten, bis ihre Tochter fertig ist.«
Der zurückgebliebene Beamte an der Tür sprang auf.
Franziska hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, schon gut. Ich sage nichts mehr.«
Frau Fassbinder dachte kurz nach. Dann nickte sie und der Polizist ging zurück zu seinem Stuhl.
»Sie kommen also um halb vier in Andernach an. Sie gehen runter ans Rheinufer. Viertel vor vier. Sie treffen sich mit ihrer Freundin. Vier. Sie nehmen den Bus zurück nach Neuwied um fünf, sind um halb sechs wieder mit Ihrer Mutter und deren Freund zusammen. Habe ich das richtig verstanden?«
Sabrina nickte.
»Nun, mein Kind. Was ist in der Stunde zwischen vier und fünf passiert?«
Meine Welt ist zusammengebrochen. Ich habe Dinge gesehen, die ich nie hätte sehen dürfen. Ich habe einen Mann geküsst, der ein Mörder sein könnte, und hinter dem Interpol her ist und der sich rheinauf, rheinab versteckt, weil ihn so viele
decken, die ebenfalls Dreck am Stecken haben. Das würde Franziska nie verstehen. Das konnte sie ja selbst kaum begreifen.
»Sabrina? Ich muss wissen, was in dieser Stunde geschehen ist. Wenn Sie es mir nicht sagen, dann klingeln wir Frau Seiters aus dem Bett. Wir haben keine Probleme, das zu tun und auch heute Nacht noch eine Gegenüberstellung zu arrangieren. Wo waren Sie?«
Sabrina schüttelte den Kopf. Sie wollte weg, einfach nur weg.
»Was ist in dieser Stunde geschehen? Was haben Sie
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