Lilienblut
nicht ab, nur weil du protestieren willst. Prüfe dich ein bisschen mehr und handle nach deinem Sinn, und nicht danach, was andere von dir erwarten. Damit meine ich nicht nur Amelie, sondern auch mich.«
Wenn das eine Weinberg-Entschuldigung sein sollte, kam sie im falschen Moment. Sabrina zog sich wieder die Arbeitshandschuhe an und ging hinüber zu ihrer Reihe. Nach kurzer Zeit schon hatte sie das Gespräch vergessen. Wie in Trance knipste sie die grünen Trauben ab, und jedes Mal, wenn sie mit einem Stock fertig war, tauchte der nächste auf. Es hörte nicht auf. Schnipp. Es würde nie aufhören.
Schnipp. Es war ihr Schicksal. Schnipp. Gefangen in Dobersteins Riesling …
Sie merkte erst, dass etwas anders geworden war, als sie das vertraute Knipsgeräusch von ihrer Mutter nicht mehr hörte. Irritiert richtete sie sich auf und bog den schmerzenden Rücken durch. Franziska Doberstein stand einfach nur da, die Hand schattenspendend über die Augen gelegt, und schaute hinunter ins Tal. Auch die Polinnen hatten aufgehört zu arbeiten. Langsam verließen sie die Reihen und sammelten sich auf einer schmalen Terrasse etwas weiter unterhalb. Das war schon sehr ungewöhnlich. Auch sie wandten den Blick nicht vom Fluss, über dem sich das Grau des Himmels verdichtete.
Und dann hörte Sabrina aus weiter Entfernung vom anderen Ufer her die Sirenen. Polizeiwagen mit Blaulicht jagten die Promenade von Andernach hinunter. Menschen versammelten sich und wurden zurückgedrängt, als offenbar jemand versuchte, das Gelände zwischen Krippe 8 und der Werth zu räumen. Dann jagte mit lautem Jaulen ein Boot der Wasserschutzpolizei heran und machte am Anleger fest. Beamte sprangen heraus und liefen in den Wald. Nicht über den Weg, in den Wald.
Franziska schaute immer noch. »Was ist denn da los?«
Sabrina stolperte die paar Schritte auf sie zu und stellte sich neben sie. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie hatten ihn entdeckt. Kilian saß in der Falle. Für einen kurzen Moment wirbelten Schreck und Freude in ihr durcheinander. Schreck, dass er erwischt wurde, und Freude, weil er geblieben war. Er war nicht fort. Und er würde wahrscheinlich auch noch eine Weile in der Gegend bleiben müssen.
»Da ist was passiert«, sagte ihre Mutter, und in die jähe Freude mischte sich plötzlich die Ahnung von etwas Bösem, das nichts mit einem harmlosen Versteckspiel zu tun hatte.
Genau erkennen konnte man aus dieser Entfernung nichts. Sabrina riss sich die Handschuhe herunter und eilte zu dem Holzkorb, den sie am Fuß des Weinberges abgestellt hatten und in dem neben vielen nützlichen Utensilien auch ein Fernglas
lag. Sie brauchten es ab und zu, um nachzusehen, ob oben am Ende des Steilhangs alles in Ordnung war. Manchmal riss der Wind den Draht ab, oder einige Stämme waren nach einem Unwetter geknickt. Mit dem Fernglas konnte man prüfen, ob der mühsame Aufstieg wirklich erforderlich war.
Sie fand es und kletterte wieder hoch zu ihrer Mutter. In fieberhafter Eile justierte sie die Entfernung. Sie suchte erst das Ufer ab – die Einfahrt zum Seitenarm lag still und friedlich da – und riss es dann herum zu den Krippen, die mittlerweile geräumt waren. Ein großer, grauer Kastenwagen kam gerade über die Wiese angerollt und traf zeitgleich mit einem Krankenwagen ein. Die Sanitäter sprangen heraus und liefen in den Wald. Vermutlich würden sie das Loch im Zaun nutzen – und tatsächlich verschwanden sie wenig später aus Sabrinas Blickfeld.
Noch einmal schwenkte sie zurück zu dem grauen Wagen. »Was heißt Gerichtsmedizin?«
»Gib mal.«
Sie reichte ihrer Mutter das Glas.
Franziska Doberstein blickte hindurch und ließ es dann sinken. »Offenbar … Vielleicht hat es einen Toten gegeben. Die Gerichtsmedizin kommt nur, wenn der Notarzt nichts mehr machen kann.«
Etwas in Sabrinas Bauch fühlte sich plötzlich an wie ein schwerer, eiskalter Klumpen. Kilian. »Ich muss rüber.«
»Das geht nicht. Alles ist abgesperrt. Sie werden dich nicht ranlassen. Lass sie doch einfach in Ruhe ihre Arbeit tun. Und wir müssen uns beeilen. Da kommt gleich was runter.«
Sabrina nickte. Ihre Knie waren plötzlich so weich, dass sie Angst hatte, an dem steilen Berg ins Rutschen zu kommen. Sie ging in die Hocke und atmete tief durch. Dann holte sie ihr Handy heraus und wählte noch einmal Amelies Nummer. Wieder sprang nur die Mailbox an.
»Amelie, melde dich bitte. Auf der Werth ist was passiert. Alles ist abgesperrt. Hast du von …« Sie brach ab,
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