Lilienblut
überschlagenden Fußballreporters klang bis hinaus auf die Straße.
»He, Willy!«, rief jemand.
Amelie zuckte zusammen und lief schneller.
»Deine Tochter ist schon wieder unterwegs. Steck das Mädel mal zeitig ins Bett, dann kommt sie nicht auf dumme Gedanken!«
Ein meckerndes Lachen ertönte. Im Türrahmen erschien jetzt auch die Gestalt, die dazugehörte. Ein kleiner Mann mit scharfen, von Missgunst und Enttäuschung zerfressenen Zügen.
»Pass lieber auf, dass du mal wieder im richtigen Bett landest!«, rief Amelie über die Schulter zurück.
Der Mann schimpfte etwas Unverständliches. Im Waldviertel durfte man nicht auf den Mund gefallen sein, das fiel Sabrina immer wieder auf.
»Berti ist harmlos«, sagte Amelie.
Sabrina sah sich noch einmal um. Bertis Augen funkelten ihnen böse hinterher. Wahrscheinlich war er das, harmlos. Trotzdem beneidetete sie Amelie nicht gerade darum, jeden Tag an jeder Ecke dumme Sprüche hören zu müssen.
Ein paar Meter weiter machte Amelie halt und deutete auf ein unscheinbares Eckhaus, an dem eine Bronzetafel mit dem Bild eines Mannes angebracht war.
» Drunk on the dark street of some city, it’s night, you’re lost, where’s your room? «
»Bukowski«, kommentierte Sabrina das Gedicht. Immer wenn Amelie plötzlich englisch sprach, zitierte sie Andernachs berühmtesten, aber nicht uneingeschränkt beliebtesten Sohn.
Amelie nickte. »Geboren in diesem Haus am sechzehnten August neunzehnhundertzwanzig. Gestorben vierundsiebzig versoffene, verhurte, aber gelebte Jahre später in Los Angeles. Was lernen wir daraus?«
Sabrina zog Amelie bei Dunkelgelb über die Straße. Ihre Freundin ließ sich mitschleifen und sah noch einmal zu dem Gebäude zurück, bevor sie selbst die Antwort gab. »Dass Andernach mal höchstens der Anfang sein kann. Aber nicht das Ende. Verstehst du das?«
»Ich würde mir für meinen Lebensweg nicht unbedingt Bukowski zum Vorbild nehmen.«
»Eben.«
Sabrina blieb stehen. »Was soll das heißen? Eben?«
»Es soll nichts anderes heißen, als dass Charles Bukowski nicht Charles Bukowski geworden wäre, wenn er als Heinrich Karl in Andernach geblieben wäre.«
»Woher willst du das wissen?«
Amelie seufzte und schulterte die Tasche auf die andere Seite. »Das weißt du selbst. Warum wehrst du dich gegen den Weinberg? Weil du auch nicht hier bleiben willst. Weil die Welt noch anderes zu bieten hat als diese Schufterei am Steilhang oder eine Lehrstelle als Verwaltungsangestellte bei der Stadt. Und weil du nicht irgendwann so enden willst wie deine Mutter.«
Sabrina biss sich auf die Lippen, um Amelie nicht an ihre eigene Familie zu erinnern. Es war ein gewaltiger Unterschied zwischen Franziska und Wanda. Franziska schuftete, um zu leben. Wanda lebte, um fernzusehen. Es war nicht fair, die beiden miteinander zu vergleichen. Vielleicht wäre sie auch so ruhelos wie Amelie, wenn sie einen ewig betrunkenen Vater und eine ewig verfressene Mutter hätte. Keiner konnte das sagen. Vielleicht wäre Amelie ganz anders, wenn sie bei den
Dobersteins groß geworden wäre. Zumindest bis zu ihrem zehnten Lebensjahr, denn so lange hatten sie mit der Trennung gewartet. Als ob es danach weniger weh getan hätte.
»Ich weiß genau, was du denkst«, fuhr Amelie fort, und ihr Ton war etwas schärfer geworden. »Aber so verschieden sind unsere Mütter nicht. Beide leben ein Leben, das für uns niemals in Frage käme. Aber vielleicht bist du einfach noch zu jung, um das zu begreifen. Und ich habe leider keine Zeit, dir beim Erwachsenwerden zuzusehen und auf dich zu warten.«
Sie hatten die Uferpromenade erreicht und schlugen sich hinter dem Alten Krahnen in die Büsche. Spaziergänger kamen ihnen entgegen, Jogger mit Hunden und Radfahrer. Ein verliebtes Pärchen saß auf einer Bank und schaute gemeinsam auf den Rhein.
Sabrina trottete Amelie hinterher wie ein geprügelter Hund. Was sollte denn das schon wieder heißen? Ihr beim Erwachsenwerden zusehen? Sie war doch kein Baby mehr!
»Was schleppst du da die ganze Zeit mit dir rum?«, fragte sie unwirsch. »Ich will das jetzt wissen.«
Amelie wartete einen Moment, bis Sabrina neben ihr angekommen war. »Ein paar Sachen zum Übernachten. Man kann ja nie wissen.«
»Du willst heute bei ihm bleiben?«
»Nicht nur heute, wenn du mich fragst. Er ist … einfach umwerfend. Mal sehen, wie der Abend sich so gestaltet.«
Sabrina blieb stehen. »Dann störe ich wohl.«
»Nein«, antwortete Amelie. Aber es klang nicht
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