Lilienblut
hundertprozentig ehrlich. »Natürlich nicht. Nur … Falls sich was ergeben sollte, dann wäre es nett, wenn du die Flatter machst …«
Sabrina fühlte sich wie eine Badewanne, aus der man den Stöpsel gezogen hatte. Irgendwie flau und wackelig auf den Beinen. Und ihre beste Freundin starrte sie plötzlich an, als wüchse ihr ein Horn aus der Stirn.
»Nein«, sagte Amelie und trat auf Sabrina zu. »Das … Das tut mir leid. Das habe ich nicht gewusst. Du magst ihn, stimmt’s? Ach, meine Kleine!«
Amelie wollte sie in den Arm nehmen, doch Sabrina schüttelte sie ab.
»Oh Mann.« Die schwere Tasche landete auf der Wiese. Hilflos ließ Amelie die Arme hängen. »Du hast da was verwechselt, glaube ich. Er hat mir noch an Bord zugeflüstert, wie sehr er sich heute Abend auf mich freut, auf ein Wiedersehen mit mir. Er hat das gesagt, ich schwöre es dir! Sonst würde ich doch nicht … Ach, Sabrina!«
Dieses Mitgefühl in ihrer Stimme, genau das war es, was Sabrina am allerwenigsten gebrauchen konnte. »Ich glaube, du irrst dich. Er ist mir egal. Und außerdem ist er viel zu alt. Geh schon. Ich wünsche dir alles Gute.«
»Das tust du nicht«, antwortete Amelie leise.
»Doch.« Sabrina wunderte sich, wie normal ihre Stimme klang. Sie wusste nicht, bei welcher Gelegenheit Kilian Amelie etwas hinter ihrem Rücken zugeflüstert haben könnte, aber deutlicher konnte man ihr nicht sagen, dass sie das fünfte Rad am Wagen war. »Ich wünsche dir wirklich einen schönen Abend. Egal, wie er endet.«
Amelie strahlte wieder. Sie hob ihre Tasche auf und stand einen Moment etwas unsicher da. Dann nahm sie ihre Freundin in den Arm. »Danke«, flüsterte sie. »Du bist ein Schatz.«
»Keine Ursache«, antwortete Sabrina.
Sie sah Amelie nach, die hinter den Silberweiden verschwand, und einen Moment hatte sie den Impuls, ihr hinterherzulaufen und sie zurückzuholen. Dann verging dieser Augenblick, und zurück blieb ein vages Gefühl von Verlust, wie sie es immer spürte, wenn ihr etwas aus den Händen geglitten war, für das sie keinen Namen hatte. Sie machte sich auf den Rückweg. Man musste einfach ein bisschen positiver denken. Ihre Mutter würde heute keinen Grund zur Klage haben. Wenn sie sich beeilte, bekam sie noch den Neun-Uhr-Bus.
Obwohl der Himmel noch hell war, flammten die Straßenlaternen auf. Die Schatten der Berge tauchten Andernach in eine samtige Dämmerung. Sie kam an Krippe 8 vorbei und
etwas sah nicht so aus wie immer. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, durch die Zweige der Silberweide zu spähen. War dort ein Schatten, der nicht dahingehörte, oder irrte sie sich? Zwei Lichter blitzten auf – Iris, Pupille, schon waren sie verschwunden. Fuchs oder Mensch? Ihre Schritte wurden schneller, sie blickte über die Schulter und sah etwas hinter die Büsche huschen, so schnell, dass sie einen Augenblick später schon an eine Täuschung glaubte. Wer sollte sich auch nach Einbruch der Dunkelheit an den Krippen herumtreiben? Zwanzig Meter weiter sah sie schon das Pärchen auf der Bank sitzen. Sie knutschten jetzt so leidenschaftlich, wie man das nur tat, wenn niemand in der Nähe war.
Sabrina hörte ihren eigenen Atem. Nervös sah sie sich noch einmal um. Da war nichts. Die Dunkelheit hatte ihr einen Streich gespielt. Noch ein Stück weiter vorne waren wieder mehr Leute unterwegs, doch sie konnte erst aufatmen, als sie die Haltestelle erreichte und feststellte, dass sie ihren Bus um genau drei Minuten verpasst hatte. Pechsträhnen hatten die Angewohnheit, kleben zu bleiben. An den großen wie auch an den kleinen Dingen.
In dieser Nacht fand Sabrina lange keinen Schlaf. Immer wieder wälzte sie sich von der einen auf die andere Seite. Sie war ruhelos und wusste nicht, weshalb. Sie sah Amelie in ihrem roten Kleid vor sich, wie sie die Hand hob und ihr ein letztes Mal zuwinkte, bevor die Dunkelheit sie verschluckte. Das Bild verfolgte sie bis in ihre Träume. Sie wollte Amelie folgen, doch immer wieder schob sich ein Maschendrahtzaun zwischen sie, und Amelie stieg auf ein rostiges Schiff, das sie mitnehmen würde in den Süden, weit weit fort, sie und Kilian. Jep.
ACHT
Der nächste Tag zerfloss in der Gluthitze der Schieferberge. Sie speicherten die Wärme zusätzlich, und Sabrina hatte das Gefühl, in einem Backofen zu arbeiten. Der Himmel hing wie eine graue Glasglocke über ihnen und der Morgendunst aus dem Flusstal verstärkte die Schwüle noch. Ihre Mutter arbeitete drei Reihen weiter. Bei
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