Lilienblut
war, und zahlte. Sabrina starrte in ihren kalten Kaffee. Als sie wieder hochsah, war Lukas verschwunden.
Hoffentlich kriegen sie das Schwein.
Alte Geschichten, mehr verdrängt als vergessen. Sie blieb noch ein paar Minuten sitzen. Die Schatten erreichten den Garten und sie fröstelte. Die Luft roch nach feuchter Erde, und ein paar verfrorene Spatzen hopsten über den Kies auf der Suche nach etwas Essbarem. Sabrina zerkrümelte den Keks, den sie zu ihrem Kaffee bekommen hatte, und warf den Vögeln ein paar Bröckchen zu. Ein Spatz war besonders frech:
Er flog direkt auf ihren Tisch und machte sich über die Kuchenreste her. Sabrina beobachtete ihn, und plötzlich merkte sie, dass sie lächelte. Ein bisschen schief und eingerostet vielleicht, aber immerhin.
ELF
»Was ist damals am toten Fluss passiert?«
Franziska Doberstein hatte gerade eine Flasche Wein geöffnet und schnupperte interessiert an dem Korken. »Wann?«, fragte sie nebenbei.
»Vor acht Jahren. Ich war noch ein Kind damals und ihr habt mir nichts wirklich gesagt.«
Ihre Mutter legte den Korken in die Spüle und goss etwas Wein in ein Glas. Sie roch daran, schwenkte es und probierte schließlich einen kleinen Schluck.
Sabrina setzte sich an den Küchentisch und wartete, bis ihre Mutter ein erstes Urteil gefällt hatte.
»Gut«, sagte Franziska schließlich. »Sehr gut. Nicht im Geringsten korkig. Die Morlemmers haben eine ganze Kiste zurückgehen lassen. Probiert haben sie allerdings nur zwei Flaschen und beide sollen nicht gut gewesen sein.«
Das gab es immer wieder. Gerade die, die am wenigsten Ahnung von Wein hatten, spielten sich oft als die größten Kenner auf. »Korkig« war ein gern genutztes Argument, wenn Wein zurückgeschickt wurde. Ab und zu wurde es einfach vorgeschoben, damit man sich vor dem Bezahlen drücken konnte. Franziska verzichtete dann zwar auf die Berechnung der Flaschen, aber auch darauf, diese Leute weiter zu beliefern.
»Willst du einen Schluck?«
»Nein danke.« Obwohl Sabrina mit Wein groß geworden war, trank sie ihn nicht. Er schmeckte ihr nicht. Noch ein ziemlich deutlicher Hinweis darauf, dass aus ihr niemals eine Winzerin werden würde. »Erzähl mir die Geschichte vom toten Fluss.«
Franziska nahm Flasche und Glas und setzte sich zu ihrer
Tochter. Sie schenkte sich noch einmal ein, aber wie sie das tat, sah eher so aus, als ob sie Zeit gewinnen wollte. »Der tote Fluss«, begann sie. »Da wurde vor langer Zeit einmal ein besonders grausamer Mord begangen. Der Täter wurde nie gefasst. Damals war der Hafen von Andernach noch nicht so ausgebaut wie heute. Ab und zu lagen dann Schiffe hinter der Namedyer Werth vor Anker, in diesem verwilderten Seitenarm.«
Sabrina nickte. Ihr Herz klopfte schneller. Genau dort hatte auch die Désirée gelegen.
»Wir hier auf der anderen Seite haben nicht so viel davon mitbekommen. Das meiste stand sowieso in den Zeitungen. Eine junge Frau wurde wohl auf bestialische Weise erstochen und ins Wasser geworfen. Der Täter wurde erst viel später gefasst und nur aufgrund von Indizien überführt. Es waren schlimme Wochen.« Franziska hob ihr Glas zum Mund, ließ aber Sabrina keinen Moment aus den Augen. »Und jetzt Amelie«, sagte sie und trank einen Schluck.
»Amelie wurde nicht erstochen«, flüsterte Sabrina. Es war, als ob ihr jemand die Kehle zudrücken würde.
»Eben«, antwortete Franziska. »Deshalb hör nicht auf das, was die Leute sagen.«
Sabrina hatte keine Ahnung, worauf ihre Mutter anspielte. Sie hatte sich in den letzten Wochen so tief in ihre Arbeit und ihre eigenen Gedanken vergraben, dass sie mit niemandem mehr Kontakt gehabt hatte.
»Was sagen die denn?«
»Nicht wichtig. – War es schön?«
»Was?«
»Mit Lukas heute Nachmittag.«
»Ach so.« Sabrina wusste nicht, was ihre Mutter hören wollte. Und schon gar nicht, ob sie das überhaupt etwas anging. »Ja, nein. Weiß ich nicht.«
Franziska hob die Augenbrauen, was so ziemlich alles von »Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen« bis »Geh vielleicht mal zum Arzt« bedeuten konnte. »Ein netter Junge«, sagte sie stattdessen. »Wie kommt er damit klar?«
»Gar nicht«, antwortete Sabrina. Und komischerweise wusste sie genau, dass es stimmte. »Gar nicht.«
Franziska sah sie lange an. Schließlich nahm sie ihr Glas und stand auf. »Ich leg mich eine Stunde aufs Ohr.«
Das war der einzige Luxus, den sie sich sonntags gestattete. Sabrina nickte ihr zu, und kaum hatte ihre Mutter die Küche
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