Lilienblut
verlassen, griff sie nach dem Laptop. Er lag auf der Küchenbank und war ihre einzige Verbindung in die große, weite Welt des Internets. Sabrina wusste nicht mehr, wie oft sie ihre Mutter schon um einen eigenen Computer gebeten hatte. Kein Geld, hieß es immer. Das klassische Argument, mit dem alles und jedes abgebügelt werden konnte. In Wirklichkeit war es wohl eher so, dass Franziska sich damit immer noch eine kleine Kontrollmöglichkeit vorbehielt, was Sabrinas Zugriff aufs Internet betraf. Es war nervig und lästig, aber leider nicht zu ändern. Sabrina horchte in Richtung Flur und Schlafzimmer. Alles still.
Als Erstes googelte sie toter Fluss. Die interessanteste Nachricht war, dass vor dem Haus von Jon Bon Jovi am Fluss Navesink ein toter Delfin gefunden worden war. Und dass es eine Menge Krimis gab, die diese Worte in ihrem Titel führten. Sie versuchte es mit Mord, Andernach und Naturschutzgebiet. Bingo . Eine acht Jahre alte Meldung der Andernacher Nachrichten.
17.7. Andernach/Nijmegen. Im Mordfall der erstochenen 22-jährigen Liliane S. wurde der Ehemann des Opfers in den Niederlanden festgenommen. Der Mann konnte noch nicht vernommen werden, weil er einen verwirrten Eindruck machte. Er befand sich auf einem Lastschiff, mit dem er nach eigenen Angaben mehrere Wochen lang unterwegs gewesen war.
Ein Schiff.
Sabrina suchte weiter. Liliane S. hieß die Tote, und mit diesem Hinweis landete sie eine erstaunliche Anzahl an Treffern. Da sie die neuste Meldung zuerst gelesen hatte,
arbeitete sie sich nun Schritt für Schritt in die Vergangenheit vor.
24.6. Andernach/Neuwied. Noch immer kein Fahndungserfolg im Fall der Liliane S. Die Polizei sucht nach dem Lastschiff, das zur Tatzeit hinter der Namedyer Werth gelegen haben soll. Die junge Frau war am vergangenen Mittwoch ermordet worden. Anwohner kritisieren schon seit Langem, dass das Gebiet rund um den Seitenarm des Rheins mittlerweile als eine Art »rechtsfreier Raum« gälte. Vandalismus und das Tolerieren von wilden Campern und unangemeldeten Schiffen hätten zu einer Vernachlässigung geführt, die auch weniger harmlose Besucher anziehen würde. »Leider wurde mein Vorschlag, die Namedyer Werth in den Bebauungsplan Andernachs mit einzubeziehen, von der Bürgerversammlung abgelehnt«, so Martin Kreutzfelder, einer der wichtigsten Investoren der Region.
Sabrina spürte, wie ihre Handflächen nass wurden. Ein verschwundenes Schiff, ein Mord, ein wildes Stück Rheinufer, zu dieser Zeit noch weit davon entfernt, Naturschutzgebiet zu werden – jetzt verstand Sabrina, warum damals so viel getuschelt wurde. Sie suchte die nächste Meldung. Und näherte sich damit mehr und mehr dem Tag, an dem der Mord geschehen war.
20.6. Andernach/Neuwied. Die schöne Tote von der Werth – bei der jungen Frau, die gestern am Seitenarm des Rheins gefunden wurde, handelt es sich um die 22-jährige Liliane S. aus Koblenz. Das gab die Kriminalpolizei Neuwied am Abend auf einer Pressekonferenz bekannt. Ein Mitarbeiter der Hafenbehörde habe die Leiche entdeckt, als er Hinweise darauf bekam, dass in dem Seitenarm des Rheins ein nicht angemeldetes Schiff liege. Vor allem kleinere Unternehmer, die auf eigene Rechnung fahren würden, umgingen so die Liegegebühren im Hafen. Bürger von Andernach hatten in den letzten Monaten immer wieder auf die »unhaltbaren Zustände« auf der Werth aufmerksam gemacht. In der Vergangenheit hatte es
mehrfach Zusammenstöße zwischen wilden Campern und Anwohnern gegeben.
Sabrina stand auf und holte sich ein Glas Leitungswasser. Während sie neben dem Tisch stand und das Glas leerte, schaute sie auf den bläulich leuchtenden Bildschirm. Offenbar hatte sich zur Tatzeit noch ein ganz anderes Drama abgespielt: der Kampf der Andernacher um ein wertvolles Stück Land, das heute ein Naturschutzgebiet war. Martin Kreutzfelder, Lukas’ Vater, hätte die Werth wohl gerne mit hübschen Reihenhäusern bebaut. Sein Vorhaben war gescheitert. Vielleicht war er im Nachhinein sogar froh darüber gewesen – wer wohnte schon gerne am toten Fluss ?
Sabrina scrollte weiter nach unten.
15.6. Mord auf der Werth. Eine unbekannte junge Frau wurde gestern von einem Mitarbeiter der Hafenbehörde auf dem Ödland unterhalb der B9 gefunden. Die Kriminalpolizei geht davon aus, dass es sich um ein Gewaltverbrechen handelt. Das Opfer ist noch nicht identifiziert. Es wird vermutet, dass es sich bei der jungen Frau um eine Ortsfremde handelt, da die
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