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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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wusste, wie es wirklich in ihm aussah. Und obwohl alle im Hafen Heimatlose waren, so hatte doch jeder von ihnen den Namen einer Stadt auf den Lippen, wenn man ihn fragte, woher er kam. Manche trugen Fotos bei sich. Sie waren zerknittert, eingerissen, vergilbt, aber sie zeigten Menschen, an die sie sich von Zeit zu Zeit erinnerten. Nur er, der nette Deutsche, hatte keine Stadt. Und kein Foto. Erst recht kein Heim.
    Es hatte einen Moment gegeben, da hatte er daran gedacht. Als
er von hinten an sie herangetreten war und ihren Duft eingeatmet hatte, der nach Seife und Blumen roch und nach etwas, das so lange zurücklag, dass er sich gar nicht mehr richtig erinnern konnte. Er hatte die Augen schließen und sich an sie lehnen wollen, doch dann hatte sie sich umgedreht mit diesem Schreck in den Augen, als ob sie geahnt hätte, welche schwere Fracht dieses Schiff geladen hatte. Sein Heim waren zwanzig Quadratmeter Erinnerung, und je länger er unterwegs war, umso fester verwuchs er mit ihnen, umso mehr wurden sie zum Teil seiner selbst. Er würde sie nicht mehr loswerden – egal, ob er das Schiff verkaufen würde oder nicht. Was passiert war, ließ sich nicht mehr ändern. Es hatte sich in seine Seele geritzt wie ein unsichtbares Tattoo. Es war sein Stempel, sein dunkles Mal, sein Weg ohne Umkehr.
    Der alte Andrej kam vorbeigehinkt, in der Hand eine halbvolle Flasche Wodka, und schenkte jedem ein, der ihm sein Glas entgegenhielt. Er nickte und Andrej kam der Aufforderung großzügig nach. Er hatte ein Bein verloren, lange war das her. Mal im Krieg, mal auf einem japanischen Walfänger, mit dem er auf den Weltmeeren unterwegs gewesen sein wollte, keiner wusste es mehr so genau. Andrej am wenigsten. Diese Baracke war seine Endstation. Hier war er an Land gespült worden, und während seine schwankende Gestalt davonging und sich wieder anderen Gästen zuwandte, dachte er daran, dass die Ferne sehr schnell ihren Reiz verlor, wenn man sie sich aus der Nähe betrachtete.
    »Hier bist du.«
    Erschrocken sah er hoch. Vor ihm stand Richard, den alle Rick nannten. Ein Baum von einem Mann, mit kräftigen Schultern in einem durchlöcherten Pullover, ein Grinsen auf den breiten Lippen. Er hatte ein weiches Gesicht mit einem kleinen, hervorspringenden Kinn, das ihm gemeinsam mit seinen strahlend blauen Augen etwas ewig Kindliches verlieh. Seine Hände waren voller Narben und Schwielen. Er war harte Arbeit gewohnt. Und er war es gewohnt dass man ihn unterschätzte. Er kannte alle wichtigen Beleidigungen in mehr als zwanzig Sprachen, und er hatte eine schnelle Auffassungsgabe, denn mehr als einmal sagte man sie ihm nicht. Seine Hände konnten blitzschnell zu Fäusten werden. Und genauso, wie
er Eisenstangen biegen konnte, sollte er das auch mit Knochen tun können. Sagte man.
    »Setz dich.«
    Er zog einen Stuhl heran und Rick ließ sich darauf fallen. Er hatte eines von Andrejs Wassergläsern in der Hand. Der Wodka schwappte über, als er es vor sich auf die abgeschabte Kunststoffplatte des wackeligen Tisches stellte.
    »Hab dich den ganzen Tag gesucht.« Ricks Augen wanderten auf der Suche nach Bekannten durch den rauchverhangenen Raum. Er nickte einigen zu, hob das Glas und trank es in einem Zug zur Hälfte aus.
    »Warum?«
    »Darum.« Rick öffnete den Reißverschluss seines Pullovers und suchte darunter herum, bis er aus der Tasche seines Hemdes eine zusammengefaltete Zeitungsseite herausholte und sie umständlich auf dem Tisch ausbreitete. Er tippte auf einen Artikel. »Bist du das?«
    Es war ein Phantombild. Und es sah ihm ähnlich. Verdammt ähnlich. Er zog es näher zu sich heran. »Mord am toten Fluss«. Für einen Moment setzte sein Herzschlag aus. Dann zwang er sich, den Artikel zu lesen. Ein Foto war auch noch dabei. Er sah es lange an. Als er fertig war, stand er auf und ging ohne ein Wort vor die Tür.
    Das gelbe Licht der Reklametafel hatte durch den Nebel einen Heiligenschein bekommen. Weit hinten strahlten Tausend-Watt-Lampen die Kais an, die Skelette der Kräne lagen wie Scherenschnitte über den dunklen Gipfeln der Containergebirge. Sirenen heulten, Warnglocken schrillten. Tonnen von Eisen krachten aufeinander. Es war nie still am Hafen, die Lichter gingen einfach nicht aus.
    Er lief ein paar Schritte. Sein Atem bildete kleine Wolken und die feuchte Kälte kroch durch die Pullover. Er klapperte mit den Zähnen. Er wurde krank. Bestimmt.
    Die Zeitung war Monate alt. Aber drinnen in der Baracke hatte er für einen Moment

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