Lilienblut
Problem. Wo Berti abgeblieben war, ging sie nichts an. Schließlich war er erwachsen. Er konnte tun und lassen, was er wollte.
Sie kroch wieder zurück in das Bett. Es war noch warm, und als sie sich in die Kissen kuschelte, fühlte sich alles richtig und gut an. Sie war zu Hause, morgen würde sie mit ihrer Mutter und einem netten Jungen nach Koblenz fahren, die Hausaufgaben waren gemacht, die Ernte war eingefahren, jetzt war es Winter, und es ging auf Weihnachten zu. Sie freute sich auf die Lichter und die Kerzen, auf die alten Lieder und die Vorfreude, wenn sie die Geschenke verpackte.
Dann fiel ihr ein, dass sie in diesem Jahr kein Geschenk für Amelie haben würde. Noch bevor die Trauer wieder ihre Krallen ausfahren konnte, machte sie das Licht an und holte Amelies Tagebuch aus der Schublade. Es war mittlerweile zu einem Orakel geworden, das Sabrina immer dann zur Hand nahm, wenn sie das Gefühl hatte, ihre Freundin etwas fragen zu wollen. Aber sie las es nie im Zusammenhang, da war sie immer eisern geblieben. Manchmal schlug sich das Buch von selbst an der Stelle auf, an der die Seiten herausgerissen waren. Sabrina nahm es dann als ein Zeichen, es noch einmal zu versuchen.
Was soll ich dir schenken?
Sie schlug eine beliebige Seite auf und las den Satz, auf den ihr Finger deutete.
Gib mir die Worte, die ich so liebe. Gib mir einen Gedanken, einen Satz, ein Gedicht. Schenk mir einen Traum von dir, eine Geste, einen flüchtigen Blick im Vorübergehen, der mich streift und mich wärmt, weil ich weiß, dass du mich nicht vergisst.
Sabrina schlug das Buch zu. Sie legte es zurück, löschte das Licht, und als sie einschlief, hatte sie ein Lächeln auf den Lippen. Amelie hatte noch immer auf alles eine Antwort. Die richtige Antwort.
Das Schloss war vom Widerschein zahlloser Lichter strahlend hell erleuchtet. Es war so kalt geworden, dass der Schnee unter ihren Füßen quietschte. Sabrina hatte sich bei Lukas eingehängt, der natürlich wesentlich robuster für diese Kälte
gekleidet war und auch die passenden Schuhe anhatte, während sie, nur um nicht auszusehen wie eine Presswurst auf zwei Beinen, auf die dicke Strumpfhose unter der Jeans verzichtet hatte. Das rächte sich augenblicklich. Sie beschleunigte ihre Schritte, um so schnell wie möglich ins beheizte Schloss zu kommen.
»Schön hier.« Lukas blieb kurz stehen und betrachtete die vielen Holzbuden. Der Schnee lag auf den Dächern wie weiße Mützen. »Willst du einen Glühwein?«
»Nein, ich will ins Warme«, schnatterte sie.
Aber Lukas zog sie schon sanft zu einer der Buden. Unter einem Heizpilz drängten sich die Menschen zusammen, fröhliche Stimmen mischten sich in die obligatorische Weihnachtsmusik, die aus jedem Lautsprecher schallte.
»Zwei Glühwein. Mit Schuss.«
»Ohne«, widersprach Sabrina.
Aber Lukas achtete nicht auf sie oder hatte sie nicht gehört. Er kam mit zwei dampfenden Bechern zurück und schaffte es, ihnen zwei Plätze direkt unter dem glühenden Schirm zu ergattern. Sabrina probierte einen Schluck. Es wärmte eindeutig, aber es schmeckte ihr trotzdem nicht so richtig.
»Wo sind denn die anderen?«
Er sah sich um. Aber bei dem Geschiebe und Gedränge um sie herum war es aussichtslos, Franziska und Michael irgendwo zu entdecken. Sie waren vorausgegangen und so schnell verschwunden, dass Sabrina den Verdacht hatte, die beiden wollten ein paar Minuten unter sich sein.
»Wir treffen sie ja spätestens am Stand von deinem Vater.«
Unbemerkt schüttete sie den Rest von ihrem Glühwein auf den Boden.
Lukas trank währenddessen seinen Becher aus und hatte glänzende Augen, als er ihn wieder abstellte. »Komm mit, ich will dir ein Herz schenken.« Alle Proteste von Sabrina halfen nicht. Er zog sie weiter zu einem Lebkuchenhaus und begann, jeden einzelnen Spruch laut vorzulesen. »Du bist meine Süße.
Schnuckelchen. Schatzilein. Da! Du scheues Reh. Das wär doch was für dich.«
Sabrina, die von der Kälte schon ganz rote Ohren hatte, merkte, wie jetzt auch ihre Wangen anfingen zu glühen. Scheues Reh, dachte sie. Geht’s noch? Hoffentlich war niemand unterwegs, der sie kannte. Aber Lukas ließ sich auch durch energische Proteste nicht abhalten, und wenig später baumelte das scheue Reh an einem roten Faden um ihren Hals. Sabrina nahm sich vor, es bei der nächstbesten Gelegenheit abzunehmen und irgendwo liegen zu lassen.
»Dieser Dreck! Jeder lässt alles fallen. Wie Hunde im Straßengraben, so führen sie sich
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