Lilienblut
Hausmeister hat aufgemacht.«
»Haben sie etwas rausgekriegt?«
Wanda seufzte. »Nein. Leider nicht.«
Und dabei blieb es. Berti war wie vom Erdboden verschluckt. Die Kälte kam, und die Schritte auf der Straße klangen, als würde man über knirschendes Glas gehen. Franziska holte die Weihnachtskiste aus dem Keller und verwandelte die Küche in ein heilloses Chaos, um letzten Endes steinharte Kekse zu produzieren. Ab und zu schaute Lukas vorbei. Ende November ging Sabrina mit ihm zum Friedhof. Auf Amelies Grab legte sie einen Strauß wunderschöne, schneeweiße Lilienblüten ab. Der Atem stand in dunstigen Wolken vor ihren Gesichtern, und Sabrina fror, weil sie viel zu dünne Schuhe anhatte. Ein schlichtes Holzkreuz steckte in der Erde. Es würde erst im Lauf des nächsten Jahres durch einen Grabstein ersetzt werden.
»So viele Rätsel«, murmelte sie.
Lukas legte wieder seinen Arm um ihre Schulter. »Du wirst sie nicht lösen können. Lass die Polizei das machen. Die haben doch ganz andere Möglichkeiten.«
»Wenn Berti auch etwas passiert ist, dann heißt das …«
Er schnitt ihr einfach das Wort ab, indem er sie küsste. Ganz zart und liebevoll, und plötzlich spürte Sabrina ein warmes kleines Feuer in sich, genau dort, wo vor einigen Wochen
noch dieses böse kleine Tier mit den spitzen Krallen in ihr rumort hatte. Er zog sie näher an sich, und sie erwiderte seinen Kuss. Nicht leidenschaftlich, das wäre auf dem Friedhof auch nicht gerade passend gewesen. Aber ziemlich einverstanden mit dem, was er gerade tat.
Er ließ sie los, nahm eine Kerze und zündete sie an. Die Flamme war ganz klein in der Kälte.
»Sie hat nichts dagegen«, sagte er. »Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Daran hast du doch gerade gedacht, oder?«
Er stellte die Kerze neben das Kreuz, dann machten sie sich wieder auf den Weg zum Ausgang. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies, als sie nebeneinander hergingen. Gemeinsam erreichten sie den Ausgang. Gerade sprangen die Straßenlaternen an. Sabrina drehte sich noch einmal um und betrachtete den Friedhof mit den vielen flackernden Lichtern. Es war bitterkalt. Fröstelnd vergrub sie ihre Hände in den Jackentaschen.
»Komm schon.«
Er lief voraus zum Wagen. Sabrina riss sich von dem Anblick los und folgte ihm. Nein, Amelie hatte nichts dagegen, dass sie Lukas küsste. Sie hatte an etwas ganz anderes gedacht in diesem Moment. Etwas, das sie noch nicht einmal Lukas sagen konnte.
Kilian hatte nichts mit Amelies Tod zu tun. Ebenso wenig wie mit Bertis Verschwinden. Es war einer von hier. Aus dieser Gegend. Und mit einem Mal hatte Sabrina das Gefühl, als würde sie jemand beobachten. Sie griff nach Lukas’ Hand und war froh, an seiner Seite zu sein. Er hatte Recht. Sie musste Geduld haben und abwarten, was die Polizei herausfinden würde.
Sie warf einen allerletzten Blick zurück. Das Licht auf Amelies Grab flackerte. Plötzlich spürte Sabrina, wie sich so etwas Ähnliches wie Frieden in ihr ausbreitete. Vielleicht war es wie Aufgeben. Vielleicht aber auch ein endlich den Tatsachen ins Gesicht Sehen.
Lukas zog sie an sich. »Willst du noch mit zu mir kommen?«
Sabrina nickte.
Winter
Er saß an einem Tisch in der Nähe des Radiators, doch das half nichts. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete und ein neuer Gast an der Schwelle stehen blieb, strömte ein Schwall feuchtkalter Luft herein. Sie war gesättigt von Regen und Dieselöl. Alle Männer hier arbeiteten im Hafen. Sie rochen nach Tang und Salz, nach Schweiß und nasser Wolle. Manche auch nach billigem Schnaps, wie er hier ausgeschenkt wurde. Diese Mischung, dazu der Rauch aus filterlosen Zigaretten, legte sich wie Schmieröl auf die Lungen.
Vielleicht wurde er auch nur krank. Kein Wunder, denn das Märchen vom sonnigen Süden galt vielleicht für Italien oder Portugal, aber nicht für Bulgarien im Winter. In den Regen mischten sich winzige Schneeflocken. Wenn der Wind scharf aus dem Osten blies, stachen sie wie Nadeln auf der Haut. Er trug drei Schafwollpullover übereinander, aber er fror immer noch. Das Geld wurde knapp. Er hatte einige kleine Aufträge an Land gezogen. Aber es reichte hinten und vorne nicht. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, würde er das Schiff verkaufen und sich zu Fuß auf den Heimweg machen müssen.
Heim.
Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die jeder, der ihn nicht näher kannte, für ein Lächeln hielt. Sie nannten ihn dann mil germanez, den netten Deutschen. Aber keiner von ihnen
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