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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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das Gefühl gehabt, eine eiserne Faust würde ihn packen und aus der Gegenwart zurückwerfen in diese unwirklichen Tage am toten Fluss. Mit einem Schlag war alles wieder aus dem Schlick des Vergessens nach oben gekommen. Sie suchten ihn. Er
war ihnen, ohne es zu wissen, nur um Haaresbreite entkommen. Wahrscheinlich hatten sie die Fahndung nach ihm schon längst eingestellt. Und wenn nicht? Würde dann alles wieder von vorne losgehen? Mit einem Stöhnen lehnte er sich an die Barackenwand. Mord am toten Fluss. Das schöne, tote Mädchen. Alles riss in ihm auf. Die dünne Kruste, die sich über den Narben gebildet hatte, platzte. Schmerz, Wut und Trauer ballten sich zusammen zu einem einzigen wütenden Gedanken: Er würde nie wieder zurückkehren können.
    Die Barackentür wurde geöffnet. Laute Stimmen und Gelächter drangen heraus und wurden plötzlich wieder gedämpft, als hätte jemand eine Decke über einen Lautsprecher gelegt. Rick stand auf der oberen Schwelle, die Fäuste in die tiefen Taschen seiner Hose versenkt, in denen er immer ein kleines Klappmesser hatte. Ein Messer, bei dem man nie wusste, ob er es zum Brotschneiden oder als Waffe benutzen würde.
    Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Kilian?« Rick kam auf ihn zu und blieb neben ihm stehen. Einen Moment sah er das Hafenpanorama an und atmete dann tief ein, als ob er so etwas Fantastisches noch nie in seinem Leben gesehen hätte. »Mach dir keinen Kopf. Wir kriegen das schon hin.«
    Kilian versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern. Das hätte nach Angst ausgesehen. Oder nach Verzweiflung. In Wirklichkeit war ihm nur so kalt wie noch nie in seinem ganzen Leben. »Wer, wir?«
    »Na, wir eben. Die Jungens. Die, die nach Odessa fahren.«
    Vielleicht stand er ja noch unter Schock und brauchte deshalb ein paar Sekunden, um zu begreifen, was Rick da eben gesagt hatte.
    Aber schon die nächsten Worte seines Landsmannes zerstreuten jeden Zweifel. »Neue Papiere, für dich und den Kahn. Die kosten natürlich. Aber nach drei, vier Touren hast du das wieder drin.«
    Kilians Blick wanderte wieder hinüber zum Hafen. Dort war es hell, dort wollte er hin. Diese Ecke, in der sie gerade standen, war dunkel. Sie lag im Schatten, und die Menschen, die sich hierher verirrten, hatten allen Grund, das Licht zu meiden.
    Rick senkte die Stimme. »Baumwolle. Holz. Kohle. Keine Container.
Völlig ungefährlich. Ein, zwei Pakete unter der Ladung, kein Mensch wird sie finden. Ich hab mit dem Kirgisen über dich gesprochen. Er ist einverstanden, dass wir dich mal ausprobieren.«
    Der Kirgise war ein Mann, den Kilian noch nie gesehen hatte. Dafür hatte er umso mehr über ihn gehört. Es war nichts Gutes, was ihm zu Ohren gekommen war. Wer sich einmal auf ihn einließ, verschrieb sich ihm mit Haut und Haaren. Er sorgte gut für seine Leute. Aber man kam nie wieder von ihm los.
    »Mord.« Rick holte eine Packung bulgarische, unverzollte Zigaretten aus seiner Jackentasche und zündete sich eine an. »So ein hübscher Junge wie du. Wie kann das sein?«
    »Das geht nicht nach dem Aussehen.« Auch wenn Rick so etwas wie ein Kumpel geworden war, war er weit davon entfernt, ihn ins Vertrauen zu ziehen. »Was sind das für Pakete?«
    »Was wohl? Blöde Frage.«
    Drogen. Waffen. Was einer normalen Ladung eben untergeschoben wurde.
    »Vielen Dank. Ich schaffe das auch so.«
    »Hm.« Rick zog an seiner Zigarette. Die Glut an der Spitze erhellte sein Gesicht, und Kilian erkannte, dass der kindliche Ausdruck in Ricks Augen einem gefährlichen Glitzern gewichen war. »Das wird dem Kirgisen aber nicht gefallen, wenn du sein Angebot ausschlägst. Er könnte der Polizei auch einen kleinen Tipp geben. Überleg es dir gut.«
    »Danke. Nein.«
    Rick zuckte mit den Schultern. Dann warf er seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »So jung. So hübsch. So tot.«
    Er drehte sich um und ging zurück in die Spelunke. Kilian wartete, bis die Tür hinter ihm wieder geschlossen war, dann machte er sich auf den Weg zu seinem Schiff. Es lag weit hinten im alten Teil des Hafens, wo abgewrackte Kähne darauf warteten, verschrottet zu werden. Immer wieder sah er sich um, aber niemand folgte ihm. Er wollte gerade in den Trampelpfad einbiegen, der direkt zu den zersprungenen Kaimauern führte, als zwei Schatten sich aus dem Dunkel lösten und ihm den Weg versperrten. In der Hand des einen blitzte ein Messer.

    Sie sagten nichts. Der Bruchteil einer Sekunde, den Kilian brauchte, um die Situation zu erfassen,

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