Lilienblut
auf!«
Die Stimme war direkt hinter ihr. Sabrina wagte nicht, sich umzudrehen.
»Früher war das noch schön hier. Da haben sie Adventslieder gesungen. Und jetzt? Diese Discomusik. Wie rollige Katzen, und das an Weihnachten!«
»Schon gut, Opa.«
Sabrina hielt den Atem an. Sie ließ Lukas ein paar Schritte weitergehen, weil sie nicht wusste, was schlimmer war: Von einer Klassenkameradin mit einem Du-scheues-Reh-Herz um den Hals erwischt zu werden, oder sich dem Richter zu erkennen zu geben, der sich zweifellos an ihre Fersen heften und ihnen die Verworfenheit der modernen Welt am Beispiel des Koblenzer Weihnachtsmarktes erklären würde. Aber es war schon zu spät, die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Genauer gesagt, es gab gar keine. Sie bekam einfach beide Katastrophen gleichzeitig serviert.
»Sabrina! Bist du das?«
Mit einem Lächeln, das gar nicht so einfach auf die kalten Wangen zu zaubern war, drehte sie sich um.
»Beate! Und Herr Gramann. Was verschlägt Sie denn hierher?«
Beates Blick wanderte gerade über die Zuckerschrift auf dem Lebkuchenherz. Sie gab sich sichtlich Mühe, aber dennoch hatte ihr Grinsen etwas leicht Boshaftes. »Wir haben
einen alten Kollegen von Opa besucht und dachten, es wäre eine nette Idee, hier mal vorbeizuschauen.«
Die Augenbrauen des Richters zogen sich missbilligend zusammen, damit auch allen klar war, dass seine Erwartungen an nette Zerstreuungen hier um ein Vielfaches unterboten wurden. »Aber es gibt ja nur noch Ramsch und Tinneff. Früher, als der Rhein noch zugefroren ist, da haben sie die Schiffsschaukeln auf das Eis gestellt, und Schlittschuh sind wir gelaufen. Und heute?« Er wartete nicht ernsthaft auf eine Antwort.
Beate verdrehte die Augen, doch dann sprach sie mit sanfter Stimme auf ihn ein. »Ich denke, wir gehen mal ins Schloss. Da ist es warm.«
»Guten Abend, Herr Gramann.«
Die fast blinden Augen des Richters wanderten zu der Stelle, an der er den Redner vermutete. »Kreutzfelder?«, fragte der alte Mann. »Lukas Kreutzfelder?«
»Richtig. Lange nicht gesehen.«
Beate tauschte einen vielsagenden Blick mit Sabrina. »Ich bin übrigens seine Enkelin, wenn ich mich einfach mal so vorstellen darf.«
»Ach so! Das tut mir leid«, entschuldigte sich Sabrina eifrig. »Darf ich vorstellen? Lukas Kreutzfelder, Beate und … naja, den Herrn kennst du ja wohl.«
»Das will ich meinen«, polterte der Richter. »So oft, wie ich dir gerne den Hintern versohlt hätte! Hast deinem Vater nicht immer Ehre gemacht. Nein, nein. Schwimmst heute hoffentlich nicht mehr im Fluss. Oder?«
»Nicht bei diesem Wetter.« Lukas verzog das Gesicht und grinste schief. Offenbar wurde er nicht gerne an seine Kinderstreiche erinnert. »Aber bevor wir hier festfrieren, sollten wir vielleicht tatsächlich reingehen. Herr Richter? Nach Ihnen.« Mit einer formvollendeten Geste ließ er den alten Herrn am Arm seiner Enkelin vor.
Während sie auf das einladend geschmückte Schloss zugingen, stupste Sabrina ihren Begleiter an. »Was, du warst im Rhein?«
Das war eine gefährliche Sache. Nicht wegen der Strömung, die war selten so stark, dass sie die Leute wirklich hinabzog. Der Rhein war zwischen Leutesdorf und Andernach auch nicht wirklich tief. Drei, vier Meter vielleicht. Wenn man auf den Grund kam, musste man sich nur ordentlich abstoßen, dann war man schnell wieder an der Wasseroberfläche. Das Schwimmen war es nicht, was den Fluss unberechenbar machte.
Lukas nickte. »Ich hab Klavier gespielt.«
So nannte man das, wenn man sich an die Kähne hängte und ein paar Kilometer flussauf schleppen ließ. Die Finger tasteten über die Reling wie ein Klavierspieler, bis man festen Halt gefunden hatte. Im besten aller Fälle wurde nur der Schiffshund auf die ungebetenen Gäste gehetzt. Im schlimmsten geriet man in den Sog der Schiffsschraube.
»Echt?« Sabrina wunderte sich. So viel Mut – oder Tollkühnheit – hätte sie Lukas gar nicht zugetraut. Sie erinnerte sich, wie entsetzt er gewesen war, als Amelie das Steuer seines Bootes übernommen und damit einige waghalsige Kapriolen vollführt hatte. Damals hatte er nicht nach jemandem ausgesehen, der auf Rheinschiffen den blinden Passagier machte.
Sie betraten das Schloss, das sie mit der wohligen Wärme eines riesigen Kamins empfing. In ihm brannte ein Feuer, über dem man einen Ochsen hätte braten können. Die große Halle war mit Tannenzweigen und Christbäumen geschmückt. Es duftete nach Lebkuchen und Zimt. Doch die
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