Lilienblut
ist ein harter Knochen. Er meckert über alles. Die Politik, die Amerikaner, die Russen, die Rente. Eben alles, was so herrlich weit weg ist, damit man sich über das, was in direkter Nähe ist, nicht den Kopf zerbrechen muss. Über mich zum Beispiel. Ich war im Internat, bis ich zwölf war. Dann dachte ich, es wäre gut, wieder zu Hause zu sein. Jetzt bin ich hier. Ich kann mir alles kaufen, was ich will. Aber so funktioniert es nicht.« Sie sah Sabrina an. »Es funktioniert nicht«, wiederholte sie.
Sabrina schluckte. Das war ja noch schlimmer, als sie gedacht hatte.
»Geld zu haben, ohne etwas dafürzukönnen, nehmen dir die meisten übel«, fuhr Beate fort. »Aber ich kann es ja nicht verhindern. Es stimmt, ich habe keine Bindungen. Aber vielleicht liegt es ja nicht nur an mir, sondern auch ein bisschen an denen, die mich nur aufs Geld reduzieren.«
»Das tue ich nicht.«
»Dann unterstell mir doch nicht, dass ich mit allem falsch
liege, nur weil ich nicht das Gleiche erlebt habe wie du. Ich sehe ganz genau, was mit dir los ist. Du weißt nicht, wer du bist.«
»Das weiß ich sehr genau.«
»Und was ist dann mit Lukas?«
»Das! Weiß! Ich! Nicht!« Sabrina lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin nicht auf dem Amelie-Trip, falls du das glaubst. Amelie mochte Lukas nicht. Ich mag ihn. Ich will ihm eine Chance geben, aber … Vielleicht ist das alles noch zu früh.«
»Okay.« Beate stand auf und zog ihren Mantel an. Dabei beugte sie sich noch einmal an das Guckloch im Fenster. »Och, jetzt ist es weg.«
»Was denn?«
»Das Schiff, das Sehnsucht heißt.«
Sabrina rannte den Weg zum Rhein hinunter, wie sie noch nie gerannt war. Mehrmals wäre sie auf den eisigen Wegen fast ausgerutscht. Als sie endlich den Kai erreicht hatte, keuchte sie weißen Dampf aus. Sie hielt sich den Schal vor den Mund, um die kalte Luft nicht ungeschützt einzuatmen. Dann spähte sie flussauf und flussab. Nichts war zu sehen. Nur die Eisschollen am Ufer, die sich höher und höher türmten, und in der Mitte der dunkle, schwarze Fluss.
Beate kam hinterhergelaufen. Auch sie keuchte.
Wütend drehte sich Sabrina um. »Warum hast du das nicht früher gesagt?«
»Ich wusste ja nicht, dass der Kahn dich so sehr interessiert. Du hast gesagt, du willst nicht drüber reden und du bist durch mit dem Thema.«
Sabrina hätte vor Verzweiflung am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. Das konnte doch nicht wahr sein! Immer wenn dieses Schiff auftauchte, löste es sich unmittelbar danach in Luft auf. »In welche Richtung ist er denn gefahren?«
»Das weiß ich nicht. Aufwärts, würde ich sagen.«
Sabrina schaute in Richtung Andernach, aber schon nach
wenigen hundert Metern hatte der eisige Nebel alles verschluckt. »Wie sah er denn aus?«
»Alt. Irgendwie verrostet. Einer von der Sorte, die man schon längst hätte aus dem Verkehr ziehen sollen.«
Mutlos machte sich Sabrina auf dem Rückweg. Beate trottete hinter ihr her. Sie hatte die Kapuze ihres Daunenparkas übergestreift und die Hände tief in den Taschen vergraben.
»Ich kann mich auch getäuscht haben. Vielleicht hieß er ja gar nicht Désirée. Sondern Dosenöffner. Oder Daisy. Desiderata. Desdemona.«
Sabrina stapfte weiter und drehte sich nicht um. Sie war wütend. Beate hätte ihr sagen sollen, dass das Schiff gerade in dem Moment an der Rheinkrone vorbeifuhr, in der sie im Warmen saß und sich ausgerechnet über die Luxusprobleme anderer Leute den Kopf zerbrach.
»Ich trage eigentlich eine Brille. Aber ich hab sie irgendwo verloren.«
Abrupt blieb Sabrina stehen. So plötzlich, dass Beate beinahe in sie hineingerannt wäre. »Du hättest es mir sagen müssen. Das erwarte ich von jemandem, der vielleicht so was Ähnliches wie Freundschaft anfangen will. Aber du hast es vermasselt. Du kriegst es nicht gebacken. Du hast keine Ahnung, wie man mit anderen Menschen umgeht. Ich habe dir alles erzählt, alles. Von dem Schiff, von Amelie, von Kilian. Und du lässt ihn vorbeifahren! Ohne ein Wort! Hast du sie eigentlich noch alle?«
Beate machte den Mund auf, aber Sabrina hob die Hand.
»Es reicht. Ich bin kein zwischenmenschliches Versuchskaninchen. Du machst es dir verdammt einfach, indem du alles aufs Geld schiebst, was bei dir schiefläuft. Aber es liegt an dir. An dir allein.«
Das reichte. Ein Blick in Beates Augen genügte, um zu wissen, dass sie ihr nicht mehr folgen würde. Dampfend vor Wut lief Sabrina den Uferweg wieder hoch. Sogar im
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