Lilienblut
Gewissen. Irgendwann würde es so weit sein. Sie war sechzehn, und da wurde es langsam Zeit, die Helden nicht nur als Poster an der Zimmerwand hängen zu haben. Er löste sich von ihr und sah sie erwartungsvoll an.
»Nächstes Wochenende«, sagte sie. Und als sein Gesicht sich in heller Freude verzog, setzte sie ganz schnell ein »Vielleicht« dazu. »Vielleicht. Wenn meine Mutter mit Michael verreist. Dann ginge es. Vielleicht.«
»Okay.«
Gemeinsam suchten sie Michael und Franziska, die schon auf dem Weg zum Wagen waren. Lukas verabschiedete sich und ging wieder ins Schloss. Michael brachte sie zurück nach Leutesdorf. Die Fahrt dauerte fast eine Stunde und Sabrina schlief auf dem Rücksitz ein. Sie träumte, dass sie mit Lukas in einem Sportboot über den Rhein fuhr, und es war Sommer, und Amelie schwamm im Wasser und winkte ihnen zu.
EINUNDZWANZIG
Der Winter behielt das Land in seinem Würgegriff. Morgens sprangen die Autos nicht mehr an, vor den Gemüse- und Blumengeschäften standen Heizstrahler, damit die Ware nicht erfror, und es schneite ohne Ende. Der Rhein begann, vom Ufer her zuzufrieren. Das war das eigentliche Gesprächsthema in diesen Tagen, und ob es die Alten wohl noch einmal erleben würden, zu Fuß von Leutesdorf nach Andernach zu gelangen.
Der Bus nach Neuwied quälte sich über die heillos verstopften Straßen, weil immer wieder einige Unverbesserliche keine Winterreifen montiert hatten und auf den hügeligen Pisten gefährlich ins Rutschen gerieten. Fünf Tage vor Weihnachten begannen die Ferien. Sabrina hatte nach der dritten Stunde unterrichtsfrei, und als Beate auf sie zukam und sie zum Mittagessen einlud, hatte sie nichts dagegen.
Sie marschierten zügig zur »Rheinkrone«, denn zum Spazierengehen war es eindeutig zu kalt. In der gemütlichen Gaststube fanden sie einen Tisch ganz in der Nähe des Kaminofens. Eine nette Wirtin begrüßte Beate wie eine alte Bekannte und brachte ihnen die Mittagskarten. Dann verschwand sie wieder in der Küche.
»Du bist öfter hier?« Sabrina kannte das traditionsreiche Gasthaus nur an hohen Feiertagen.
»Hm-hmm …«, bejahte Beate. »Fast jeden Tag.«
Verblüfft ließ Sabrina die Karte sinken. »Das ist aber auf Dauer ziemlich teuer.«
»Wir haben eine Art Flatrate ausgemacht. Ich bin keine Köchin. Gäbe es die Rheinkrone nicht, wäre ich längst verhungert. Nimm das Rehgulasch. Kommt zwar aus der Tiefkühltruhe, ist aber lecker.«
Das Rehgulasch war das teuerste Gericht auf der Karte.
Obwohl Beate ihre Einladung sicher ernst meinte, war sie für Sabrina etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Unter der Woche essen gehen, dazu noch mittags, und dann gleich ein Hauptgericht …
»Zwei Mal Rehgulasch«, bestellte Beate, denn die Wirtin war gerade zurückgekommen. »Eine Flasche Mineralwasser – du auch?«
Sabrina nickte. Sie wartete, bis die Frau wieder verschwunden war, dann beugte sie sich vor und fragte leise: »Kocht denn bei euch zu Hause niemand?«
»Doch, mein Großvater. Aber das ist ungenießbar. Vertrau einem Blinden mal einen Pfannkuchen an. Ich habe es meistens hinter seinem Rücken in den Abfalleimer geschmissen.«
»Und deine Eltern?«
Beate wandte den Blick ab und schaute hinaus durch das kleine Guckloch in der Fensterscheibe, das die Eisblumen noch frei gelassen hatten. »Sind viel unterwegs«, sagte sie knapp. Dann wandte sie sich wieder an Sabrina. »Der Kahn von diesem Kilian. Wie hieß der noch mal?«
»Désirée. Sehnsucht. Aber ich will jetzt nicht so gerne darüber reden.«
»Warst du mal am Hafen und hast gefragt?«
Sabrina schüttelte den Kopf. Sie nahm ihre Serviette vom Teller und faltete sie umständlich auseinander. Ihr Elan war in den letzten Wochen ziemlich eingeschlafen. Vielleicht war sie damit sogar auf dem richtigen Weg. Langsam, ganz langsam kam das Normale wieder zurück in ihr Leben. Was sie am meisten bewegte, war die Frage, ob sie nun am Wochenende mit Lukas oder ob sie nicht. Denn irgendwie hatte Michael Franziska herumgekriegt und sie würde das Haus für sich alleine haben. Noch hatte sie Lukas kein grünes Licht gegeben, denn sie war sich immer noch nicht im Klaren, ob er dafür auch der Richtige war. Es war so banal im Vergleich zu dem, was im Sommer passiert war. Aber es war das Leben und Sabrina wollte sich dieses Leben nicht für immer von einem unbekannten Mörder zerstören lassen.
»Das Thema ist erst mal durch. Ich habe das Gefühl, ich komme nicht weiter. Überall, wo ich gefragt habe,
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