Lilienrupfer
bröckelnde Kekse, die seit Langem zu trocken gelagert wurden. Es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, dass diese Fleischlosigkeit auch Frau Mägeleins Intimleben berührte und sie zum Ausgleich dieses Mangels nach Sublimierung durch die Kunst suchte.
Franz hatte ihr eben in Umrissen seine Inszenierungsideen unterbreitet und ich war gerade mit dem zweiten Stück Apfelkuchen fertig geworden, als sie plötzlich den Zeigefinger an die Lippen legte, mit einem »Pssst« um Stille bat und durch die Terrassentür nach draußen huschte. Irritiert blickten Franz und ich einander an, aber da schwangdie Tür wieder auf, der Vorhang wehte und Frau Mägelein schwebte, eine Pappmachémaske vor dem Gesicht und in ein bodenlanges, buntes Gewand gehüllt, an uns vorbei und wirbelte in einem fünfminütigen, obskuren, eckigen, wilden und fast obszönen Tanz durch die erstaunlichen Dimensionen ihres Wohnzimmers, bevor sie auf dem Berberteppich zusammensank. Daraufhin nahm sie die Maske ab, blickte ins Leere und sagte laut und deutlich: »Stein. Ich bin ein Stein. Was will dieser Stein? Was sagt uns ein Stein?«
Mein Zwerchfell zitterte und barst fast an den Folgen unterdrückten Lachens, ich schwitzte, mein Blick irrte flehend zu Franz, aber da hörte ich ihn mit todernster Miene sagen:
»Isadora Duncan, nicht wahr? Ich nehme an, liebe Frau Mägelein, Sie sind Anhängerin des Ausdruckstanzes.«
Sie bejahte begeistert und erzählte von den Vorzügen dieser Kunst. Franz nickte zu allem in verständnisvoller Ruhe und meinte schließlich: »Ich bin mir jetzt vollkommen im Klaren darüber, welche Vorstellung Sie hinsichtlich unseres Stückes hegen, und ich kann Ihnen versprechen, wir werden uns auf das Beste verstehen.«
Innerlich riss ich – wieder mit einem hysterischen Lachen kämpfend – verblüfft die Augen auf, schaffte es gerade noch, stumm zu bleiben, und hörte zu, wie sich die beiden gegenseitig in wachsendem Enthusiasmus die Bälle zuwarfen und ihr »gemeinsames Kind«, wie es Frau Mägelein glücklich ausdrückte, einer spektakulären Geburt entgegengehen sahen.
Bald darauf verkündete Franz, er habe leider einen weiteren Termin, und wir verabschiedeten uns wortreich und mit vielem Handgeschüttel. Die Investition ihres Manneswürde sich bestimmt lohnen, meinte Frau Mägelein abschließend mit einem nachdrücklichen Nicken, bevor wir mit ernsten und würdigen Mienen zu meinem Auto schritten und in uns gekehrt wegfuhren.
»Stein«, murmelte ich nach einigen Minuten unbewusst vor mich hin, während ich den Wagen über die Uferstraße lenkte. »Ich bin ein Stein. Was will dieser Stein?«
»Zum Leben erweckt werden, zum Teufel«, antwortete Franz, bevor er in einen heftigen Asthma-Lacher ausbrach. Ich steuerte an den Straßenrand, schaltete den Motor ab und erleichterte ebenfalls mein völlig verkrampftes Zwerchfell, bis ich mir die Tränen aus den Augen wischen musste.
»Gott«, japste ich schließlich. »Ich dachte, ich sterbe, als sie da mit dieser Maske vor uns herumgeisterte. Wie konntest du nur so ernst bleiben?«
Franz zuckte die Schultern. »Nur schwer. Dieses Getanze war mehr als saublöd, aber ich fand es auch traurig und sie tat mir leid.«
»Sie tat dir leid? Das klingt aber ganz anders als gestern am Telefon.« Ich wischte mir die letzte Lachträne aus dem Auge und musterte ihn aufmerksam.
»Natürlich tat sie mir leid, verdammt noch mal. Wie könnte sie mir nicht leid tun? Ich weiß, Jugend urteilt oft schonungslos, aber das Alter kennt auch Erbarmen. Du kannst dir diesen mokanten Blick jetzt sparen«, unterbrach er sich. »Im Vergleich zu mir
bist
du die Jugend, in drei Jahren werde ich sechzig. Sieh dir die Frau doch an. Irgendetwas peinigt ihre Seele, und was macht sie? Versucht, es herauszutanzen. Großer Gott!« Franz verdrehte bei den letzten beiden seiner Worte die Augen und schüttelte dann seufzend den Kopf. »Mag ja sein, dass ihr Metzgergatteeine glückliche Hand fürs Geld hat, aber ein Händchen für ihr Gemüt hat er sicherlich nicht. Damit ist sie ganz allein in diesem riesigen Schuppen …«
»Na ja, immerhin unterstützt er ihr künstlerisches Gemüt mit einem hübschen Bätzchen seines Geldes«, erinnerte ich ihn an Herrn Mägeleins Zuschuss. »Außerdem lebt sie freiwillig so. Wenn sie es nicht wollte, könnte sie es doch ändern.«
»Könnte sie nicht. Es gibt diese kleinen schwachen Vögelchen, die eine große starke Metzgerhand zu ihrem Schutz brauchen. Die überleben nicht
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