Lilientraeume
»Ach ja, was hältst du eigentlich von der Idee mit dem Foto? Du hast dich vorhin nicht dazu geäußert. Wäre doch eine schöne Erinnerung.«
»Das machen wir unbedingt! Gut, dass dir das eingefallen ist, bevor man die Leute nicht mehr zusammentrommeln kann.«
»Ich kann auch das Foto machen, falls Ryder keine Zeit hat. Er müsste mir nur seine Kamera leihen. Sag einfach Bescheid. Und jetzt finde ich, dass wir uns alle ein Feierabendbier verdient haben. Wo steckt eigentlich Hope?«
»Drüben bei Carolee vermutlich.«
»Sie wird nie Schluss machen, wenn sie nicht irgendwer zwingt. Los, hol die beiden und sag ihnen, sie sollen mit den anderen rüberkommen.« Sie stieß Owen mit dem Ellenbogen an. »Du und Ry könnt doch bestimmt auch etwas zu essen und ein Bier vertragen. Ich lauf derweilen schon mal rüber und schau nach, ob im Nebenzimmer ein schöner Tisch für euch frei ist.«
»Und du? Willst du etwa nichts essen?«
Sie sah ihn grinsend an. »Passt du schon wieder auf mich auf?«, sagte sie und war zur Tür hinaus.
Als sie am E&D vorbeikam, hörte Avery Stimmen. Neugierig öffnete sie die Tür und sah Clares Jüngsten neben der offenen Balkontür stehen. Außer ihm war niemand im Raum. Mit wem sprach er also?
»Murphy?«
»Hallo.«
»Schatz, draußen ist es furchtbar kalt. Du musst die Balkontür geschlossen lassen.«
»Ich hab sie nicht aufgemacht und nicht mal angefasst. Sie wollte wohl rausgehen, damit sie was sehen kann.«
Avery trat fröstelnd auf den Balkon und schaute sich suchend um. »Wer will raus?«
»Die Frau. Sie sagt, dass ich sie Lizzy nennen darf.«
»Oh.« Kalt lief es ihr den Rücken herunter, aber das hatte nichts mit den eisigen Außentemperaturen zu tun. »Ist sie denn jetzt hier?«
»Da draußen am Geländer.« Murphy wies auf den Balkon. »Sie hat gesagt, dass ich im Zimmer bleiben soll, weil sich meine Mom sonst Sorgen machen würde.«
»Da hat sie vollkommen recht.«
»Sie wartet.«
»Und worauf?«
»Auf Billy. Gehen wir jetzt Pizza essen?«
»Aha … Ja sicher, gleich.« Avery zuckte zusammen, als die Zimmertür geöffnet wurde – lachte dann verlegen, weil es Owen war und nicht der Geist. »Wir haben nur … Ach, ich weiß nicht. Murphy, deine Mom und Beck sind oben. Gehst du bitte zu den beiden rauf? Und versprich mir, dass du bei den anderen bleibst.«
»Okay. Ich wollte Lizzy nur kurz besuchen. Sie freut sich nämlich immer, wenn sie jemanden zum Reden hat. Bye!«
»Heiliges Kanonenrohr«, entfuhr es Avery, als Murphy fröhlich aus dem Zimmer lief. »Ich hörte Stimmen, die sich unterhielten. Zwei wohlgemerkt, doch sobald ich die Tür öffnete, war da nur Murphy – er sagte, die Frau sei draußen auf dem Balkon und er habe die Tür nicht geöffnet. Er sieht Lizzy und spricht mit ihr. Und es waren wirklich zwei verschiedene Stimmen, Owen. Echt krass, so was.«
»Jetzt beruhige dich erst mal.«
Er ging durch den Raum und schloss die Balkontür.
»Aber sie ist noch draußen. Solltest du nicht warten, bis sie wieder reinkommt?«
»Für Geister sollten geschlossene Türen kein Problem darstellen.«
»Vielleicht ist sie ja schon wieder drinnen.« Mit weit aufgerissenen Augen lehnte Avery sich mit dem Rücken an die Tür. »Das war irgendwie unwirklich. Murphy Brewster, der Geisterflüsterer. Er sagt, dass sie auf irgendeinen Billy wartet. Ich muss unbedingt mal in diesem Zimmer übernachten. Vielleicht spricht sie dann auch mit mir – obwohl es unheimlich wäre, oder? Wahnsinn.«
Owen legte ihr die Hände auf die Schultern und spürte, dass sie am ganzen Körper zitterte. »Jetzt atme ganz tief durch.«
»Keine Angst, ich bin okay. Aber man trifft schließlich nicht jeden Tag einen Geist. Wie kannst du nur derart gelassen sein?«
»Weil deine Aufregung problemlos für uns beide reicht. Und sie wartet also laut Murphy auf einen Billy?«
»Ja, der Kleine scheint einen ausgesprochen guten Draht zu ihr zu haben, wenn man das so nennen kann. Vielleicht ist Billy ja ihr Ehemann oder ihr Geliebter.«
»Sollte nicht ein Mann beide Rollen ausfüllen?«
»Du weißt schon, was ich meine. Stell dir vor: Seit hundert oder mehr Jahren wartet sie vielleicht darauf, dass er endlich kommt. Wartet und wartet. Wie romantisch.«
»Mir kommt es eher tragisch vor.«
»Auch das, aber romantisch bleibt es trotzdem. Eine Liebe bis über den Tod hinaus – so was kommt im wahren Leben fast nie vor.«
»Ich weiß nicht«, fing er an, doch sie ließ ihn nicht zu Wort
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