Lilientraeume
hatte.
Owen half Harry geduldig beim Zusammenbau eines Schlachtschiffs, das aus Zigtausenden Legosteinen bestand, Ryder ließ sich von Liam zu einem PlayStation-Turnier herausfordern, während Murphy bevorzugt mit den beiden Welpen herumtollte. Allein D.B. verfolgte das Treiben gleichmütig und interessierte sich bloß für die Weihnachtsplätzchen, die ihm hier und da zugeworfen wurden.
Die beiden Mütter unterhielten sich auf ganz besondere Weise und überboten sich mit Ideen für die bevorstehende Hochzeit. Avery machte sich einen Spaß daraus zu beobachten, wie die Augen ihres Vaters sogleich zu funkeln begannen, wenn sein Blick auf Justine fiel. Warum in aller Welt war ihr das bloß früher nicht aufgefallen? Außerdem gab er einen guten Ersatzgroßvater für Clares Söhne ab, besonders für Murphy, der mit wachsender Begeisterung an dem großen Mann hoch- und runterkletterte. An diesem Abend empfand Avery voller Dankbarkeit, dass die Welt offenbar doch jede Menge Zauber bereithielt.
Und dieser Zauber verstärkte sich noch, als Owen kurz vor dem allgemeinen Aufbruch mit ihr vor die Tür trat und sie sanft küsste. Da spürte sie nicht mehr die Eiseskälte, sondern wurde gewärmt durch seine Nähe und den Glanz der Lichter, die im Haus strahlten. Das Wunder der Weihnacht, dachte sie, und eingehüllt in dieses Gefühl von Geborgenheit fuhr sie wenig später mit ihrem Vater nach Hause, um in ihrem alten Kinderzimmer dem Weihnachtstag entgegenzuschlafen.
Die aufgehende Sonne färbte den Himmel langsam heller, als sie zum ersten Mal die Augen aufmachte. Doch sie schloss sie gleich wieder, kuschelte sich in ihre warme Decke und ließ den Abend Revue passieren. Es war wunderbar gewesen, und der Tag, der gerade erst anbrach, würde sicherlich genauso.
Sie glitt möglichst lautlos aus dem Bett, zog dicke Socken an, nahm eine kleine Tüte aus der Reisetasche und schlich in den Flur. Tapste auf Zehenspitzen, weil manche Stufen knarrten, die Treppe herunter ins Wohnzimmer mit dem großen, bunt geschmückten Baum und dem kleinen steinernen Kamin, an dessen Sims zwei Strümpfe hingen. Einer war bereits prall gefüllt.
»Wie zum Teufel macht er das?«, murmelte sie verblüfft.
Sie wusste ganz genau, dass beide Strümpfe leer gewesen waren, als sie und ihr Vater zu Bett gingen. Dann hatte sie immerhin noch eine Stunde lang gelesen, weil sie nicht gleich einschlafen konnte – und trotzdem nichts gehört. Außer seinem Schnarchen.
Irgendwie schaffte er es jedes Jahr, den Strumpf zu füllen, ohne dass sie es merkte. Ganz egal, wie spät sie sich schlafen legte oder wie früh sie aufstand. Kopfschüttelnd füllte sie seinen Strumpf mit seinen Lieblingssüßigkeiten, einem Geschenkgutschein für das »Turn the Page«, Clares Buchhandlung, und einem Jahreslos der Lotterie. Dann trat sie lächelnd einen Schritt zurück und schlang die Arme um den Oberkörper.
Nur zwei Strümpfe, dachte sie, doch sie waren gefüllt, hingen dicht nebeneinander und standen für etwas, das ihr wichtiger war als alles andere.
Sie ging weiter in die kleine Küche. Hier, an diesem alten Gasherd, hatte sie sich selbst das Kochen beigebracht. Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, denn die Zubereitung von genießbarem Essen stellte für Willy B. eine nicht zu bewältigende Herausforderung dar. Zwar versuchte er es, erinnerte sie sich, ganz ernsthaft.
Damals, als ihre Mutter sie verließ, tat er alles, um die entstandene Lücke zu füllen. Wollte dafür sorgen, dass es seiner Tochter an nichts fehlte, dass sie glücklich und sich seiner grenzenlosen Liebe sicher war. Er hatte es geschafft, nur das mit der Küche nicht. Angebranntes Essen, halb rohes Geflügel, zähes Rindfleisch, verkochtes Gemüse überzeugten sie davon, das Kochen selbst in die Hand zu nehmen. Anfangs der Not gehorchend, entwickelte sich daraus mit der Zeit eine echte Passion. Zumal sie schnell merkte, dass Kochen sie entspannte.
Außerdem freute es sie, wenn sie ihrem Vater auf diese Weise etwas zurückgeben konnte von seiner unermüdlichen Fürsorge. Er hatte ihr so viel gegeben und so viel für sie getan, ja, ihr sein ganzes Leben gewidmet, dass es ihr ein Bedürfnis war, ihm ebenfalls ihre Liebe zu zeigen. Deswegen auch bereitete sie, seit sie zwölf war, jedes Jahr sein Weihnachtsfrühstück zu.
Kaum war der Kaffee gekocht, der Speck gebraten und der kleine runde Tisch im Esszimmer gedeckt, hörte sie die Schritte ihres Vaters auf der Treppe und sein lautes Ho, ho, ho!
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