Lilith Parker: Insel Der Schatten
späten Nachmittag.
Als Lilith zum Fahrradschuppen lief, sah sie, dass Matt auf sie wartete.
»Was für eine Schule«, begrüßte er sie stöhnend. »Hier geht es zu wie im Mittelalter.«
»Ein wahrer Schüleralbtraum«, pflichtete ihm Lilith bei.
Sie machten sich auf den Heimweg und Lilith schob ihr Rad neben Matt her. Sie stellten fest, dass sie beide in Mathematik weit hinterherhinkten und beschlossen, gemeinsam zu versuchen, den Schulstoff nachzuarbeiten.
»Ich hoffe, mein Fahrrad und unsere restlichen Sachen werden bald von der Spedition geliefert«, sagte Matt, als sie die geschäftige Devilstreet hinter sich gelassen hatten. »Ohne Computer und Internetanschluss fühle ich mich wie ein halber Mensch.«
»Wem sagst du das?«, stimmte Lilith ihm seufzend zu. »Ich kann nicht einmal meine E-Mails abfragen, weil es im Haus meiner Tante keinen Computer gibt, und es scheint hier keine einzige Stelle zu geben, an der mein Handy Empfang hat.«
»Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Wir sind hier von der Zivilisation abgeschnitten und müssen den Freuden der modernen Technik nun für immer entsagen«, verkündete Matt mit bedauerndem Gesichtsausdruck. »Ich habe heute sogar schon versucht, mit meinem Taschenrechner eine SMS zu schreiben, nur um in Übung zu bleiben.« Er hielt inne und warf Lilith einen fragenden Blick zu. »Sag mal, langweile ich dich etwa? Du gähnst jetzt schon das dritte Mal.«
»Entschuldige!«, murmelte Lilith beschämt. »Ich bin nur müde, weil ich schlecht geschlafen habe. Aber das ist wohl normal, in der ersten Nacht in einem fremden Haus.«
»Also ich habe in unserem neuen Haus geschlafen wie ein Stein!«
»Im Seniorenheim ist es nachts recht laut und außerdem habe ich mich darüber aufgeregt, dass meine Tante mich in meinem Zimmer eingesperrt hat. Da konnte ich einfach nicht einschlafen.«
Matt blieb überrascht stehen. »Sie hat was?«
»Zuerst hat sie mir ausführlich erzählt, was ich in Bonesdale alles nicht tun soll. Ich darf nicht zum Kindermoor, nicht in den Schattenwald, muss vor Einbruch der Dämmerung zu Hause sein und soll nachts nicht im Haus herumgeistern«, zählte Lilith auf. »Und als sie dachte, dass ich eingeschlafen sei, hat sie mich eingeschlossen.«
»Bist du sicher, dass es deine Tante war?«
»Nein«, gab Lilith zu. »Aber wer soll es denn sonst gewesen sein? Außer Arthur habe ich keinen der anderen Heimbewohner kennengelernt. Man könnte direkt meinen, dass sie sich vor mir versteckt halten. Keine Ahnung, warum.«
»Hast du auch das Gefühl, dass hier irgendetwas seltsam ist?«, fragte Matt nachdenklich. »Die Menschen in Bonesdale benehmen sich wirklich merkwürdig.«
»Was meinst du damit?«
»Hast du das nicht bemerkt? Außer dir hat heute niemand von den anderen Schülern mit mir gesprochen. Alle scheinen mir aus dem Weg zu gehen, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte.«
Lilith musste sich schuldbewusst eingestehen, dass sie an diesem ersten Schultag viel zu beschäftigt mit sich selbst gewesen war, als dass sie darauf achtgegeben hätte. »Das bildest du dir sicherlich nur ein. Warum sollten dir die anderen aus dem Weg gehen?«
Matt zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Nur so ein Gefühl.«
Als sich schließlich ihre Wege trennten, kam Lilith eine Idee, wie sie Matt wieder aufmuntern konnte.
»Hey, Matt«, rief sie ihm hinterher. »Emma und ich treffen uns heute Mittag. Wenn du Lust hast, kannst du nachher zu mir kommen – es ist die alte Villa direkt am Friedhof. Dann lassen wir uns zusammen von Emma in Bonesdale herumführen, okay?«
Matt nickte erfreut, winkte ihr zu und Lilith schwang sich auf ihr Fahrrad. Sie fuhr im Sonnenschein in Richtung ihres neuen Zuhauses und hatte plötzlich viel bessere Laune. Eigentlich war der Schultag gar nicht so schlecht gelaufen! Sicher, die Schule war altmodisch und die Direktorin ein Monster, aber immerhin hatte sie die Bekanntschaft von Emma gemacht, die ein nettes Mädchen zu sein schien, und mit Matt verstand sie sich auch immer besser. Sie hätte es eindeutig schlimmer treffen können!
Lilith bog in die Straße zum Friedhof ein – und machte eine Vollbremsung.
Fassungslos starrte sie auf die Steinmauer zu ihrer Rechten. Dort saß die Krähe, regungslos und steif, als ob sie nur auf Lilith gewartet hätte.
Der Vogel stieß ein lautes Krächzen aus, das in Liliths Ohren klang wie ein hämisches »Jetzt hab ich dich!«. Lilith schnappte entsetzt nach Luft. Die Krähe
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