Lilith Parker: Insel Der Schatten
Bonesdale gewarnt und ihr diese Gruselgeschichte mit den Krähen erzählt. Lilith spürte: Wenn ihr jemand diese unglaubliche Geschichte mit dem Krähenangriff glauben würde, dann war es ihre Tante.
Doch Arthur musste sie enttäuschen. »Sie ist bei den O’Conners. Eleanor hat Mildred gebeten, ihr ein paar Lebensmittel zu besorgen, da sie momentan weder eine Kutsche noch Fahrräder haben. Sie müsste aber bald wieder zurück sein, da sie später noch ins Rathaus gehen muss. Ist es wichtig?«
Lilith schüttelte langsam den Kopf und war dankbar, dass Arthur sie nicht weiter bedrängte.
Als sie ihren Teller geleert hatte, erhob sie sich. Sehr zur Enttäuschung Hannibals, der unter dem Tisch gerade begonnen hatte, liebevoll an ihren Schnürsenkeln herumzukauen.
»Ich gehe auf mein Zimmer. Miss Tinkelton hat mir ein Buch über Baron Nephelius in die Hand gedrückt, das ich durchlesen muss. Ich soll ein zehnseitiges Referat über ihn schreiben.«
»Baron Nephelius?« Arthur lehnte sich zurück und strich sich nachdenklich über den weißen Bart. »Eine interessante Lektüre. Du solltest dir den Text aufmerksam durchlesen!«
Lilith wartete, dass Arthur noch etwas hinzufügte, doch er beließ es bei dieser mysteriösen Andeutung.
»Okay«, sagte sie irritiert. »Ich glaube zwar nicht, dass der Lesestoff sehr spannend wird, aber ich werde mir Mühe geben.«
Sie ging nach oben, dicht gefolgt von einem gut gelaunten Hannibal. Selbst vor ihrem Zimmer ließ er sich nicht abschütteln und drückte sich, unbeirrt ihrer »Nein, Hannibal!«-Rufe, mit ihr durch die Tür. Lilith war klar, was der Hund bei ihr zu finden hoffte – neue Schuhopfer! Mit Hannibal im Raum war das Zimmer praktisch voll, was auch der Hund zu bemerken schien, sodass er kurzerhand auf Liliths Bett sprang, das unter seinem Gewicht bedenklich quietschte. Er sah Lilith erwartungsvoll an, als sie sich neben ihn setzte.
»Das kannst du vergessen!«, verkündete Lilith ihm entschlossen. »Meine Schuhe bekommst du nicht.«
Hannibal legte den Kopf schief und sah sie mit seinen großen Augen bittend an.
»Nein!« Lilith blieb hart. »Ich hab meine Schuhe alle versteckt. An die kommst du nicht ran, nie und nimmer.«
Hannibal legte den Kopf auf ihren Arm und begann ein lang gezogenes Winseln auszustoßen. Als ob das nicht schon herzerweichend genug gewesen wäre, hob er nun eine seiner großen Pranken und tippte damit sanft in ihre Handfläche.
Kopfschüttelnd ergab sich Lilith seinem Charme.
»Na schön«, seufzte sie. »Weißt du was? Wir suchen einen leckeren Schuh für dich. In diesem großen Haus wird doch irgendein alter Schlappen zu finden sein, den du annagen kannst!«
Hannibal schien einverstanden zu sein, denn er sprang bereitwillig vom Bett und folgte ihr durch die verwinkelten Flure der Parker-Villa. Lilith war überrascht, wie groß das Haus tatsächlich war. Leider waren die meisten Türen verschlossen und Lilith traute sich nicht, sie zu öffnen, da sie nicht wusste, welche davon die privaten Zimmer der Heimbewohner waren. Andere Türen standen offen und so entdeckte Lilith noch zwei weitere gemütlich eingerichtete Aufenthaltsräume, eine kleine Bibliothek und ein Musikzimmer, dessen Herzstück ein braunes, poliertes Cembalo war. Genau wie die kunstvollen Schnitzereien an der Außenwand der Villa erinnerte auch innerhalb des Hauses vieles an die Nähe des Meeres: die tiefen Fensterbänke waren liebevoll mit Muscheln, Seesternen, Treibholz und Korallen dekoriert und an den Wänden hingen Gemälde der stürmischen See.
Ein Zimmer mit einer schönen alten Schrankuhr, deren Ticken den ganzen Raum erfüllte, und einem wuchtigen Schreibtisch schien Mildreds Arbeitszimmer zu sein. Neben dem Computer und dem Telefon stapelten sich in wildem Chaos Aktenordner, Rechnungen, Bücher und Papiere. Lilith lächelte. Der Anblick ließ sie unwillkürlich an den Schreibtisch ihres Vaters denken.
Hannibals feuchte Nase an ihrer Hand erinnerte sie daran, dass sie noch immer keinen Schuh gefunden hatten.
»Ist ja gut, Hannibal. Ich suche weiter, okay?«
Lilith verließ Mildreds Arbeitszimmer und wandte sich nach links, wo sie zu einer Tür kam, deren weißer Lack tiefe Risse zeigte und an der ein welliges Pappschild mit den Worten »Dachboden« baumelte. Zögerlich öffnete Lilith sie und warf einen Blick nach oben. Die Stufen waren ausgetreten und ein modriger Luftzug strich über ihr Gesicht. Unsicher biss sie sich auf die Lippe. Ob sie tatsächlich
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