Lilith Parker: Insel Der Schatten
warnenden Blick zu und beendete damit das Thema.
Lilith setzte sich und ihre Tante brachte ihr Tee und Gebäck.
War es nicht seltsam, dass ihr die Heimbewohner ausgerechnet an dem Tag, als Lilith das Skelett entdeckt hatte, ihr Maskottchen präsentierten? Das passte alles zu gut zusammen. Für Liliths Geschmack viel zu gut. Aber wenigstens blieb ihr nun erspart, mit dem unfreundlichen Regius ein Gespräch führen zu müssen, um ihn nach dem Skelett in seinem Zimmer auszufragen.
»Wegen der Besorgung, die du für mich erledigen solltest«, setzte ihre Tante an. »Hast du den Saft bekommen?«
Mildreds Gesicht sah angespannt aus.
»Ich habe den Laden nicht gefunden«, gestand Lilith. »Unter dieser Adresse gab es nur ein verfallenes Haus mit eingeschlagenen Schaufenstern und eine verschrobene alte Frau.«
»Oh« war alles, was Mildred herausbrachte. Ihre Schultern waren unmerklich nach unten gesackt. Selbst die anderen am Tisch schienen über diese Nachricht enttäuscht zu sein. Eine beklemmende Stille hatte sich breitgemacht.
»War dieser Saft denn so wichtig?«, hakte Lilith nach. »Wenn ihr ihn dringend braucht, könnte ich morgen früh vor der Schule noch einmal vorbeifahren. Vielleicht war es ja doch nicht die richtige Straße oder …«
»Nein, nein«, unterbrach Mildred sie. »Ich mache es morgen selbst. Da habe ich dir wohl die falsche Adresse aufgeschrieben. Tut mir leid!«
In Lilith stieg schon wieder das untrügliche Gefühl auf, dass ihr etwas verheimlicht wurde und dieser Saft viel wichtiger war, als alle zugaben. Sie verzog verärgert ihr Gesicht. So langsam hatte sie wirklich genug von dieser Geheimniskrämerei!
Hastig trank sie ihren Tee und verzog sich nach oben, mit dem Argument, dass sie an dem Referat über Baron Nephelius weiterarbeiten müsse. In Wahrheit jedoch schlich sich Lilith in Mildreds Arbeitszimmer. Sie hatte beschlossen, ihren Vater anzurufen. Vielleicht konnte sie ihn überzeugen, ihr endlich zu erzählen, was er schon so lange vor ihr verheimlichte. Denn eines war Lilith klar geworden: Erst wenn sie die Wahrheit wusste, konnte sie beginnen, sich hier in Bonesdale einzuleben und zu ihrer Tante eine normale Beziehung aufzubauen. Leider erreichte sie ihren Vater weder zu Hause noch auf seinem Mobiltelefon. Letzteres war nicht weiter verwunderlich, da ihr Vater die Angewohnheit hatte, sein Handy ständig irgendwo zu vergessen. Trotzdem hinterließ sie ihm eine Nachricht auf der Mailbox. Vielleicht hatte sie Glück und er rief sie in Kürze zurück.
In ihrem Zimmer setzte sich Lilith an den Schreibtisch und stützte frustriert den Kopf auf ihre Hände. Auch wenn es ihr schwerfiel, so musste sie sich nun in Geduld üben. Ihr Blick fiel auf die Biografie des Baron Nephelius. Seufzend nahm sie das Buch zur Hand. Es war wahrscheinlich besser, sie lenkte sich ab und begann endlich mit der Lektüre, anstatt untätig herumzusitzen. Doch nur schwer konnte sie sich auf den langweiligen Text konzentrieren. Oft genug stellte sie am Ende eines Satzes fest, dass sie überhaupt kein Wort davon aufgenommen hatte, und sie musste wieder von vorne anfangen. Als sie zum gefühlten hundertsten Mal begann, das Vorwort zu lesen, stutzte sie. Stirnrunzelnd blätterte sie im Buch vor und dann wieder zurück. Entweder hatte sie eine fehlerhafte Ausgabe erwischt oder die Autorin, die die Biografie erstellt hatte, war eine ausnehmend schlechte Historikerin gewesen. Lilith seufzte. Ehe sie an dem Referat weiterarbeiten konnte, musste sie wohl oder übel Miss Tinkelton darauf ansprechen. Entschlossen klappte Lilith das Buch zu, nahm ein Blatt Papier zur Hand und begann, ihrer Freundin Thea in London einen langen Brief zu schreiben.
Auch in den folgenden Tagen gelang es Lilith nicht, ihren Vater zu erreichen. Wenigstens hatte sich die Beziehung zu ihrer Tante nicht weiter verschlechtert und in der Schule lebte sich Lilith ebenfalls ein.
Zur ihrer Überraschung war sie von ihrem Referat entbunden worden. Noch ehe Lilith die Direktorin auf die fehlerhafte Biografie hatte ansprechen können, hatte Miss Tinkelton sie in ihr Büro rufen lassen.
Miss Tinkelton saß hinter einem monströsen Schreibtisch mit Löwenfüßen und korrigierte einen Stapel Schulhefte. Wortlos ließ sie Lilith erst einige Minuten vor dem Schreibtisch stehen, ehe sie zu ihr aufsah. Der Anblick ihrer roten Augen ließ Lilith unwillkürlich erschaudern. Sie harmonierten perfekt mit dem dicken roten Teppich des Zimmers und dem rot
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