Lilith Parker: Insel Der Schatten
bezogenen Lehnstuhl. Trotz ihrer seltsamen Krankheit schien Miss Tinkelton keine Abneigung gegen diese Farbe entwickelt zu haben.
»Lilith, danke, dass du gekommen bist.« Sie legte ihren Füller zur Seite. »Ich möchte mit dir über das Referat sprechen.«
»Ich weiß«, platzte es aus Lilith heraus. Sie deutete auf die Biografie, die sie mitgebracht hatte. »Ich habe es schon bemerkt.«
Lilith biss sich auf die Lippe. Mittlerweile wusste sie, dass die Direktorin es überhaupt nicht leiden konnte, wenn ihr die Schüler ungefragt ins Wort fielen. So war es auch nicht verwunderlich, dass sich nun zwischen Miss Tinkeltons Augenbrauen eine Zornesfalte bildete.
»Was hast du bemerkt?«
»Das Buch, das Sie mir für das Referat gegeben haben, ist fehlerhaft.«
»Warum hast du diesen Eindruck?« Der missbilligende Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Im Text steht, dass der Baron zur Zeit der Hexenverfolgung St. Nephelius vor einem Hexenjäger beschützt hat, und auf der anderen Seite ist eine Fotografie des Barons mit seiner Frau«, erklärte Lilith. »Das ist ja wohl kaum möglich. Soweit ich mich erinnere, wurde diese Technik erst im 19. Jahrhundert entwickelt.«
»Und was schließt du daraus?«
»In einflussreichen Familien ist es eine Tradition, dass die erstgeborenen männlichen Nachkommen den gleichen Vor- und Nachnamen tragen wie ihre Väter. Man kann sie nur unterscheiden, indem ihrem Namen eine Rangfolge zugeordnet wird. Dies hat die Autorin in dieser Biografie anscheinend vergessen.«
Miss Tinkeltons Mundwinkel flatterten nach oben. Lilith nahm an, dass es sich dabei um den Versuch eines Lächelns handeln sollte.
»Die einzig logische Schlussfolgerung, nicht wahr? Du hast natürlich recht. Man merkt, dass du die Tochter eines Historikers und Archäologen bist.« Miss Tinkelton stand auf und ging um den Schreibtisch herum.
»Es tut mir leid, dass du diese fehlerhafte Ausgabe erwischt hast. Ich nehme die Biografie an mich.« Sie ergriff das Buch so schnell, dass Lilith überrascht auf ihre leere Hand blickte.
»Und was ist mit meinem Referat?«
»Deswegen habe ich dich zu mir gerufen.« Miss Tinkelton nahm mit steifem Rücken wieder auf ihrem Lehnstuhl Platz. »Deine Tante hat sich mit mir in Verbindung gesetzt und mir gestanden, dass dein verspätetes Erscheinen beim Unterricht ihre Schuld war. Sicherlich wird es dich freuen zu hören, dass wir beschlossen haben, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Du bist von deiner Strafarbeit entbunden.«
Lilith runzelte die Stirn. Seltsam. Mildred hatte kein Wort dazu gesagt, als sie das Referat erwähnt hatte. Sie stutzte. Plötzlich fiel ihr wieder Arthurs Rat ein, sich die Biografie ganz genau durchzulesen. Konnte es etwa sein, dass die Informationen im Buch stimmten? War es möglich, dass der Baron tatsächlich einige Hundert Jahre alt geworden war? Lilith schüttelte den Kopf, weil sie den Gedanken so albern fand. Kein Mensch konnte solch ein hohes Alter erreichen!
In einem Punkt war sich Lilith jedoch sicher: In diesem Buch standen Hinweise auf die ominösen Geschehnisse in St. Nephelius und deshalb hatte ihre Tante veranlasst, sie von dem Referat zu entbinden. Sehnsüchtig starrte Lilith zu dem Buch auf Miss Tinkeltons Schreibtisch. Hätte sie nur die Zeit genutzt und das Buch besser durchgelesen!
»Ist noch etwas, Lilith?«
Notgedrungen schüttelte Lilith den Kopf und verließ mit hängenden Schultern das Büro. Die einzige Hoffnung, die ihr danach noch blieb, war das klärende Gespräch mit ihrem Vater. Leider sollte es ihr erst am Wochenende gelingen, jemanden in ihrer Londoner Wohnung zu erreichen.
Zum vierten Mal an diesem Tag griff sie zum Hörer und tippte die Nummer ein. Aufgeregt lauschte sie dem Freizeichen des Telefons. Es klang wie ein verlangsamtes Echo ihres klopfenden Herzens. Gerade als sie auflegen wollte, wurde der Hörer abgenommen. Zuerst hörte Lilith nur ein lautes Atmen, ehe jemand »bei Parker« keuchte.
»Clara?«, stieß Lilith überrascht aus. Mit ihrer ehemaligen Haushälterin hatte sie nicht gerechnet. An dem Tag, als Lilith London verlassen hatte, war auch Claras letzter Arbeitstag gewesen. Ihr Vater meinte, dass er vor seiner Abreise noch so viel unterwegs sein würde, dass er Claras Dienste nicht mehr benötigte, und so hatte er sie mit einer großzügigen Abfindung in Rente geschickt. Es war abgesprochen, dass Clara während seines Auslandsaufenthaltes ab und zu nach dem Rechten sah. Lilith hatte
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