Lilith Parker: Insel Der Schatten
herankommen!«
Das war leichter gesagt als getan. Lilith sah nach oben. Der Ast über ihr war zu weit entfernt, um ihn gefahrlos erreichen zu können, und unter ihr wartete der Werwolf. Das Einzige, was sie tun konnte, war, sich von der Krähe wegzuschieben. Doch je weiter sie nach außen rutschte, umso mehr begann sich der Ast unter ihrem Gewicht zu biegen und bedenklich zu knacken.
Die Malecorax folgte Lilith, doch nicht hüpfend, wie es eine Krähe getan hätte – einen Fuß vor den anderen setzend nahm sie Liliths Fährte auf und drängte sie nach außen. Schließlich musste Lilith innehalten. Der Ast bog sich immer weiter durch. Bei jedem Knacken des Holzes hielt sie erschrocken den Atem an. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Ast nachgeben und brechen würde. Lilith sah ängstlich nach unten. Der Werwolf hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und zerstückelte mit seinen Krallen die Rinde des Baumes. Zwischen seinen gefletschten Zähnen trieften Speichelfäden zu Boden.
Lilith saß in der Falle.
… plötzlich durchzuckte sie eine kalte Wut. War sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Schon wieder ließ sie sich von dieser Krähe in die Enge treiben. Schon wieder flüchtete sie vor ihr, anstatt sich zu wehren. Sie war vielleicht nicht aus Bonesdale und kannte sich mit Dämonen und Untoten kein bisschen aus, aber mit einem Vogel konnte sie es allemal aufnehmen. Zur Not würde sie diese Malecorax k. o. boxen, sie beißen, würgen oder ihr die Federn ausrupfen – aber sie würde sich ganz sicher nicht von dieser Krähe in den Schlund eines Werwolfs treiben lassen!
»Jetzt spielen wir mal ein anderes Spiel«, murmelte Lilith mit neuer Entschlossenheit.
Als sie begann, zurück zu der Malecorax zu rutschen, stieß Emma einen entsetzten Schrei aus. Aber auch die Krähe klappte erstaunt den Schnabel zu. Lilith nutzte diesen Moment, ballte die rechte Hand zur Faust und schlug mit aller Kraft auf die Krähe ein. Der Schlag kam für die Malecorax völlig überraschend. Sie hatte wohl mit keiner Gegenwehr ihres Opfers gerechnet.
Lilith erwischte die Malecorax an der Brust. Sie taumelte augenblicklich benommen zurück. Anders als bei ihrem verzweifelten Fausthieb vor der Parker-Villa hatte Lilith die Krähe dieses Mal frontal getroffen, leider jedoch – wie Lilith sofort feststellen konnte – nicht stark genug, um sie ernstlich außer Gefecht zu setzen.
Doch der Schlag brachte auch Lilith aus dem Gleichgewicht. Sie ruderte mit den Armen, versuchte nach dem Ast zu greifen, aber sie konnte das Gleichgewicht nicht mehr schnell genug wiederfinden.
Sie rutschte ab und stürzte in die Tiefe.
»Zu unserem Schutz vor den Anfeindungen der Menschen forderte Baron Nephelius im Jahre 1489, zukünftig unsere Existenz im Untergrund zu fristen. Allein das Zusammenlegen der vier Amulette vermag den Schwur, den die Führer der vier Wesenheiten einst ablegten, aufzuheben. Doch die Menschen fanden durch unser Fortbleiben keinen Frieden. Sie vergingen sich an den Ihrigen, verdächtigten sie absurder Taten und mit Grauen sahen wir, wie sie im Namen des Guten Taten vollzogen, wie sie in ihrer Grausamkeit und Bösartigkeit unsereiner nie vollbringen könnte.«
Geheimer Auszug aus »Grimoire der Untoten«,
Neuauflage von 2010
I m trudelnden Fall stürzte Lilith nach unten. Schon sah sie sich am Boden liegen, mit gebrochenem Bein oder Schlimmerem, hilflos dem Werwolf ausgeliefert.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie sie an dem Ast, auf den sie und Emma zunächst gemeinsam geklettert waren, vorbeiraste. Intuitiv streckte sie die Arme aus.
Sie spürte die raue Rinde des Holzes, die sich wie spitze Nadeln in ihre Hände bohrte, und klammerte sich daran fest. Ein schmerzhafter Ruck ging durch ihren Körper, als ihr Sturz abrupt abgebremst wurde.
Sie hatte es geschafft! Ein warmes Gefühl der Erleichterung durchströmte Lilith, doch es währte nicht lange.
Sie musste nicht hinuntersehen, um zu wissen, dass der Werwolf wie wild geworden immer wieder in die Höhe sprang, um ein Stückchen von ihr zu fassen zu kriegen. Lilith zog die Beine so weit wie möglich an, trotzdem spürte sie den heißen Atem des Werwolfs an ihren Knöcheln.
»Ich helfe dir!«, rief Emma ihr zu.
»Beeil dich!«, stöhnte Lilith. Ihre Arme wurden immer schwerer und ihre Finger begannen langsam, aber sicher abzurutschen.
Ein Geräusch ließ Lilith nach oben sehen. Die Krähe war ihr hinterhergeflogen und saß genau
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