Lilith Parker: Insel Der Schatten
können, die auf der anderen Seite des Baumstamms saß. »Wir können ja nicht für immer hier oben bleiben!«
»Zur Not aber die ganze Nacht. Werwölfe sind Nachttiere und meiden das Sonnenlicht. Deswegen verstecken sie sich tagsüber, wenn die Touristen auf der Insel sind, auch freiwillig in den Grüften auf dem Friedhof.«
Lilith verzog ihr Gesicht. Natürlich war sie froh, dass sie auf dem Baum in Sicherheit waren, doch die Aussicht, bei dieser Kälte bis zum Morgengrauen hier oben bleiben zu müssen, war nicht gerade angenehm. Es würde wohl eine sehr lange Nacht werden.
Im Schein ihrer Taschenlampe begann Emma, ihre Taschen zu durchsuchen. Erstaunt beobachtete Lilith, was sie alles zutage förderte.
»Was ist denn das?« Lilith deutete auf ein verschnürtes Säckchen, das Emma neben sich auf dem Ast abgelegt hatte.
Emma zögerte einen Moment, dann murmelte sie etwas, das sich wie »Jetzt ist ja sowieso alles egal« anhörte.
»Ein Beutel mit getrockneten Blüten. Der Geruch hält Geistererscheinungen fern. So einen Beutel sollte man in Bonesdale immer bei sich tragen. Geister sind zwar nicht wirklich gefährlich, aber sie können einem gehörig Angst einjagen«, begann sie Lilith zu erzählen. »Am besten helfen Jasminblüten, doch die verlieren sehr schnell ihren Duft. Geister können zwar nicht riechen, doch sie nehmen all die Energien um sich herum auf, so wie wir den Sauerstoff in einem Zimmer einatmen. Die Energien der Blüten verursachen ihnen Übelkeit.«
Das erklärte, warum Lilith überall im Haus ihrer Tante diese Säckchen mit Jasminblüten gefunden hatte – nur dass sie daraus natürlich den Schluss gezogen hatte, Mildred wäre in deren Duft so vernarrt.
»Dann haben wir im Spukhaus echte Geister gesehen, oder?«
»Teilweise. Das Mädchen, das in der Wand verschwindet, ist tatsächlich nur eine optische Täuschung. Die Hologramme im Spukhaus sind von Regius erfunden worden.« Emma räusperte sich. »Die, die so flackern und eher zum Lachen aussehen. Die echten Geister waren es, die euch so in Angst versetzt haben, zum Beispiel auch die weiße Frau in der Devilstreet.«
»Dann habt ihr euch all diese technischen Einzelheiten, wie die Geschichte mit den Projektionen, nur für die Touristen ausgedacht? Damit niemand misstrauisch wird?«
Emma nickte, während sie weiter den Inhalt ihrer Taschen durchsuchte. Gerade hatte sie etwas hervorgezogen, das wie eine kleine Rassel aussah.
»Und was ist das, bitte schön?«
»Schon in der Steinzeit gab es Rasseln, weil man damals bereits wusste, dass dieses Geräusch die Körperschlüpfer fernhält. Babys sind besonders anfällig für sie. Im Mittelalter befüllte man sie mit Wolfszähnen, weil man glaubte, dass sie dadurch effektiver würden. Stimmt aber gar nicht, man könnte sie auch mit Reis oder Plastikkugeln befüllen, das hilft genauso.«
»Körperschlüpfer?« Lilith schwirrte der Kopf. Nur die Tatsache, dass direkt unter ihnen ein Werwolf wie tollwütig seine Krallen in den Stamm des Baumes grub, ließ sie Emmas fantastische Erzählungen glauben. Nun zog Emma auch noch einen schweren, handtellergroßen Kieselstein aus ihrer Tasche.
»Das ist ein Trudenstein. Das Loch in seiner Mitte ist durch natürliche Erosion entstanden, das ist wichtig, sonst wirkt er nicht. Es ist ein Schutzstein, der das Böse abhalten soll. Jedenfalls behauptet das meine Mutter.« Emma hob zweifelnd die Schultern. »Manchmal glaube ich, sie hat mir das schwere Ding nur in die Tasche gesteckt, um mich damit zu quälen. Außer mir und meinem Bruder trägt nämlich niemand hier in Bonesdale einen Trudenstein mit sich herum.«
Emma ließ enttäuscht die Hände sinken. Ihre Taschen waren leer.
»Was für einen mystischen Gegenstand hast du denn gesucht, wenn man fragen darf?«
»Mein Handy.«
»Sehr mystisch.« Lilith grinste. »Aber ich müsste meines hier haben.« Sie zog ihr Telefon hervor und sah auf das Display. »Kein Empfang, wie immer«, sagte sie bedauernd. »So ein Mist, wir hätten ja auch mal Glück haben können.«
Lilith trug ihr Handy nur noch aus Gewohnheit mit sich herum. Seit sie in Bonesdale lebte, war es so gut wie unbrauchbar geworden. Bisher hatte sie nur einen einzigen Ort entdeckt, an dem sie Empfang hatte, und zwar ausgerechnet in der Schule, wo Miss Tinkelton das Benutzen der Handys selbstverständlich unter Strafe verboten hatte.
Lilith warf Emma einen nachdenklichen Blick zu. »Du hast vorhin etwas von Nocturi erzählt. Ist es das,
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