Lilith Parker: Insel Der Schatten
zwischen ihren Händen. Triumphierend blickte sie zu Lilith herab. Sie schien ihre Hilflosigkeit richtiggehend zu genießen. Die Krähe drehte sich zu Liliths rechter Hand und begann, mit ihrem Schnabel darauf einzupicken.
»Bitte nicht!«, flehte Lilith. Auch wenn der Schmerz noch erträglich war, so wusste sie doch, dass es die Malecorax dabei nicht bewenden ließe. Es war ein Spiel für sie und ihr Ziel war es, Lilith so lange wie möglich zu quälen.
Der Schnabel hackte immer stärker auf Liliths Hand ein. Schon mehr als einmal hätte der Schmerz sie fast dazu verführt, den Ast loszulassen. Aber der Werwolf wartete nur darauf, dass sie in Reichweite seines Gebisses kam. Liliths Oberarme begannen zu zittern.
»Halt durch, Lilith!«, schrie Emma.
Sie hatte sich von Ast zu Ast auf die andere Seite des Baumes gehangelt und war nun direkt über der Krähe. Aber die Malecorax hatte sie kommen sehen. Sie stieß eine Art Warnschrei aus und funkelte Emma aus ihren schwarzen Augen warnend an. Emma erbleichte und zögerte.
»Ich kann nicht mehr!«, keuchte Lilith.
»Ja … ich …« Emma stockte. Die Krähe hatte die Flügel ausgebreitet und machte Anstalten, auf Emma zuzufliegen. Emma wich so abrupt zurück, dass sie fast das Gleichgewicht verlor. Die Krähe krächzte zufrieden und begann wieder, auf Liliths Hand einzuhacken. Doch nun war ihr nicht mehr nach spielen zumute. Sie hackte mit solcher Inbrunst auf Liliths Finger ein, dass Lilith mit einem Schmerzensschrei ihre Hand zurückzog.
Lediglich von einer Hand gehalten baumelte Lilith nun direkt über dem geifernden Werwolf. Nur noch wenige Atemzüge trennten sie von einem Fall in die Tiefe und dem Rachen des Raubtieres. Lilith schloss die Augen. Sie hoffte, dass sie von dem Sturz ohnmächtig wurde, damit sie nicht mehr spürte, wie der Werwolf seine Zähne in ihr Fleisch grub.
Über sich hörte sie einen dumpfen Schlag. Mit letzter Kraft blickte Lilith nach oben und sah aus den Augenwinkeln etwas Schwarzes zu Boden fallen. Dann tauchte Emmas Gesicht über ihr auf.
»Warte, ich helfe dir!« Emma griff nach Liliths Hand und zog sie zu sich nach oben.
Erschöpft klammerte sich Lilith an dem Baum fest und schnappte nach Luft. Die Muskeln in ihren Armen brannten wie Feuer.
Einige Minuten saßen die beiden schweigend nebeneinander.
»Das war ganz schön knapp«, ergriff Lilith schließlich das Wort. Sie warf Emma einen dankbaren Blick zu. »Ohne deine Hilfe wäre ich verloren gewesen!«
Emma sah schuldbewusst auf. »Tut mir leid, dass ich mir so viel Zeit gelassen habe. Die Malecorax hat mir ganz schön Angst eingejagt.«
»Das kann ich verstehen, glaub mir.« Lilith betrachtete das Blut an ihrer Hand, wo die Krähe sie zuletzt erwischt hatte. Die Wunde war zwar nicht besonders groß, dafür aber tief. Mit Sicherheit würde Lilith von dieser Begegnung eine Narbe als Erinnerung behalten. »Wie hast du die Krähe eigentlich vertrieben?«
»Mithilfe des Trudensteines.«
Lilith sah sie überrascht an. »Seine Magie hat gewirkt?«
»Nicht direkt.« Emma grinste. »Ich hab das schwere Ding auf die Malecorax geschleudert.«
»Dieser Schutzstein ist wirklich sehr effizient«, lachte Lilith auf. »Ich glaube, so einen werde ich mir auch zulegen.« Sie sah sich suchend um. Von der Krähe war keine Spur mehr zu sehen. »Anscheinend hast du sie voll erwischt!«
Emma wurde rot vor Stolz. »Sie konnte noch nicht einmal mehr ein Krächzen ausstoßen. Der Stein hat sie direkt am Kopf getroffen. Vielleicht ist sie sogar tot.«
»Kann sein«, stimmte Lilith halbherzig zu. Sosehr sie es sich auch wünschte, sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieses machtvolle Geschöpf so leicht zu besiegen war.
»Jetzt haben wir nur noch das Problem mit dem Werwolf«, gab Lilith zu bedenken.
»Welcher Werwolf?«
Überrascht sah Lilith zu Boden. Tatsächlich – der Werwolf hatte sich verzogen! Ohne die Malecorax und deren Befehle hatte er die Jagd auf die beiden Mädchen anscheinend für aussichtslos befunden und seinen Platz am Fuße des Baumes aufgegeben.
»Wahrscheinlich ist er zurück zum Friedhof gelaufen«, meinte Emma.
Lilith musste an Hannibal denken. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hoffte so sehr, dass er den Kampf mit den Werwölfen überlebt hatte!
Zur Sicherheit harrten die beiden Mädchen noch einige Zeit auf dem Baum aus, bevor sie sich nach unten wagten. Als Lilith in zügigem Tempo loslaufen wollte, bemerkte sie, wie sehr dieses
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