Lilith Parker: Insel Der Schatten
langsamer. Wir können jedoch ein so hohes Alter erreichen, dass es den Menschen so vorkommen muss, als seien wir unsterblich.«
Deshalb sah ihre Tante auch so viel jünger aus, als sie tatsächlich war! Und das erklärte auch, warum Baron Nephelius sowohl die Zeit der Hexenverfolgung als auch die Erfindung der Fotografie erleben konnte. Bis zu seinem Tod musste er einige Hundert Jahre alt gewesen sein. Kein Wunder, dass Miss Tinkelton sie auf Mildreds Bitte hin von dem Referat entbunden hatte. Wahrscheinlich wäre Lilith beim Lesen der Biografie auf weitere Ungereimtheiten gestoßen.
»Wenn uns allerdings jemand Gewalt antut, sterben wir genauso wie die Menschen, und wie du an den Bewohnern des Altersheims siehst, werden auch wir am Ende unserer Lebenszeit alt und gebrechlich.«
Nun erfuhr Lilith, dass Arthur nicht nur jeden Abend einen Zombie spielte, sondern tatsächlich einer war. Er gehörte zu den sogenannten Wiedergängern, genau wie Sir Elliot, der – wie Lilith schon bei der Durchsuchung seines Zimmers mit Schrecken erleben musste – ein quietschlebendiges Skelett war. Danach hatten es die Heimbewohner für besser gehalten, ihn Lilith als ihr Halloweenmaskotchen vorzustellen, so musste er sich auch nicht mehr permanent in seinem Zimmer verstecken. Bei Melinda und Isadora lag Lilith mit ihrem Verdacht, dass die beiden Vampire seien, absolut richtig.
»… und Regius ist so etwas wie ein Magier«, schloss Mildred ihre Aufzählung ab.
»So etwas wie ein Magier?«
»Nun, nicht in diesem Sinne, wie Menschen einen Zauberer definieren. In Wirklichkeit ist es für einen Magier nur möglich, etwas, das schon vorhanden ist, zu verändern. Er ändert quasi den Eindruck, den der Betrachter von den Dingen hat.«
Unsicher blickte Lilith ihre Tante an. »Ist es schlimm, dass ich das nicht verstehe?«
Mildred schüttelte lachend den Kopf. »Nimm zum Beispiel diese Küche. Ein Magier kann sie so verändern, dass sie neu und perfekt eingerichtet wirkt, doch er kann daraus keinen herrschaftlichen Ballsaal zaubern. Es ist wie die Sache mit dem halb vollen Glas Wasser: Für dich ist es vielleicht halb leer, doch ein Magier lässt dich denken, dass es halb voll sei.«
Lilith war etwas enttäuscht. Die Sache mit dem Zaubern klang doch weit weniger glamourös, als sie bisher angenommen hatte.
Sie knabberte an ihrem Sandwich herum. Ihr schwirrte der Kopf von all diesen ungeheuerlichen Informationen. Die Welt, die sie seit knapp dreizehn Jahren zu kennen glaubte, schien plötzlich nicht mehr zu existieren.
»Du hattest einen Verdacht, dass bei uns etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, oder?«, fragte Mildred. Ihre Augen blitzten neugierig auf. »Jedenfalls wirst du nicht ohne Grund dein Schlüsselloch mit Kaugummi zugeklebt haben!«
»Eigentlich wollte ich nur nicht wieder eingesperrt werden«, gestand Lilith kauend. »Was hast du in dieser Nacht eigentlich vor meiner Tür gemacht? War das ein Beschwörungsritus?«
»Manche Geister dringen trotz des Blütenduftes nachts in das Haus ein. Die Tür zum Zimmer deines Vaters verfügt jedoch über eine magische Sicherheitseinrichtung. Wenn sie verschlossen ist, kann kein noch so starker Geist das Zimmer betreten.« Mildred setzte ein schiefes Grinsen auf. »Und als du das Schlüsselloch mit Kaugummi verklebt hattest, musste ich versuchen, mithilfe eines magischen Bannspruches eine Schranke zu errichten. Solche Dinge liegen uns Sirenen nicht gerade im Blut.«
»Aber es hat funktioniert. Jedenfalls ist kein einziger Geist in meinem Zimmer aufgetaucht«, beruhigte Lilith sie. »Tut mir leid, dass ich das Schlüsselloch verklebt habe«, fügte sie reuig hinzu. Es war schon grotesk, zu wie viel Scherereien und Missverständnissen diese ganze Heimlichtuerei geführt hatte.
Sie spülte den letzten Bissen des Sandwichs mit einem Glas Limonade hinunter.
»Warum ist eigentlich ausgerechnet das Zimmer meines Vaters mit so einer Geistersicherung ausgestattet?«, wollte Lilith wissen.
»Dein Vater …« Mildred stoppte und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Er ist ein Socor, er hat nicht die geringsten Fähigkeiten geerbt. Die meisten unserer Nachkommen zeigen latente Kräfte und bis zu ihrem dreizehnten Geburtstag weiß niemand, ob sie sich wandeln werden oder nicht. Bei deinem Vater jedoch war schon im Kindesalter klar, dass er ein normaler Sterblicher ist. Nicht nur das. Obwohl er in der Welt der Untoten aufgewachsen ist, hat ihm als kleiner Junge alles, was mit ihr zu tun
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