Lilith Parker: Insel Der Schatten
nicht gewandelt.
Das Meer war ihre letzte Hoffnung gewesen. Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, doch das Meer ließ nicht zu, dass sie weinte. Dieses Mal riss es Lilith nach oben, spuckte sie an die Wasseroberfläche wie etwas, das man nicht im Mund haben wollte.
» … WO … DU?«
Lilith wurde aus ihrer Starre gerissen. Über das Brausen hinweg hatte sie zwar nur Wortfetzen vernehmen können, doch die Sorge und die Todesangst, die in der Stimme lagen, waren unüberhörbar. Erst jetzt wurde Lilith wieder bewusst, dass sie nicht alleine in Gefahr war. Das Mädchen war ihr ins Meer gefolgt. Sie, Lilith, wäre schuld, wenn sie heute Nacht beide ums Leben kämen. Das durfte sie nicht zulassen! Hier ging es nicht nur um sie allein.
»Hier! Ich bin HIER!«, schrie Lilith gegen den Sturm an. Sie hatte das Gefühl, als würde der Wind ihrem Mund die Worte entreißen, ehe sie sie überhaupt ausgesprochen hatte.
»Ich komme zu dir!«
Mit kräftigen Stößen versuchte sich Lilith an der Oberfläche zu halten und dem Mädchen entgegenzuschwimmen.
Zum ersten Mal, seit sie denken konnte, machte ihr das Meer plötzlich Angst. Diese ungeheure Menge an Wasser. Wie klein sie dagegen war, wie machtlos. Wie hatte sie je glauben können, dass die See ihre Vertraute war? Das Meer war niemandes Freund. An ruhigen Tagen duldete es vielleicht die Eindringlinge, doch sobald es erwacht war, wurde jeder Störenfried von ihm gnadenlos verschlungen.
Der Mond durchbrach die Wolken und wie ein Flutlicht strahlte er auf das Meer hinab. Lilith sah zwischen den Bergen und Tälern der Wellen einen Kopf aus dem Wasser ragen, nicht weit von ihr entfernt. Bei gutem Wetter hätte sie das Mädchen in wenigen Zügen erreicht, doch nicht heute. Lilith erhöhte ihre Anstrengungen, ihre Kraft nahm jedoch mit jedem Stück, das sie sich vorankämpfen konnte, spürbar ab.
»HALTE DURCH!«, rief sie, wie um sich selbst Mut zuzusprechen.
Nun war Lilith in Reichweite, nur noch wenige Meter, dann wären sie beieinander und könnten zusammen an Land schwimmen! Das Mädchen lächelte ihr erleichtert zu. Liliths Bewegungen erstarben vor Schreck. Das Mädchen, auf das sie zuschwamm, hatte stechend blaue Augen und schwarze lange Haare, die ihr in feuchten Strähnen im blassen Gesicht klebten. Lilith sah sich selbst. Wie konnte das sein? So etwas war doch unmöglich!
In diesem Moment erfasste sie eine besonders große Welle. Zuerst wurde sie von ihr hochgehoben, höher und immer höher, sodass Lilith das Gefühl bekam, sie würde wie mit dem Aufzug eines Wolkenkratzers nach oben katapultiert. Die Angst in ihr wuchs mit jedem Meter, den sie gen Himmel getragen wurde. Mit vollkommener Klarheit erkannte Lilith plötzlich, dass dies ihr Ende sein würde.
Die Welle hatte ihren Höhepunkt erreicht und einen Atemzug lang schien die Welt stillzustehen … dann zog die Welle sie mit sich in die Tiefe.
Ein panischer Schrei entwich Lilith. Das Wasser schlug über ihr zusammen und ihr Mund füllte sich mit der salzigen Flüssigkeit. Als das Wasser in ihre Luftröhre eindrang, spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrer Brust. Mit rudernden Armen versuchte sie sich nach oben zu kämpfen, doch es war, als ob sie etwas an den Füßen in die Tiefe ziehen würde. Ihre Kraft reichte nicht aus, um gegen diese Naturgewalt zu bestehen.
Ihre Lunge brannte und der Druck auf ihrem Brustkorb war unerträglich. Luft. Sie brauchte Luft.
Ein Schleier begann sich über ihre Augen zu legen. Die Kälte des Wassers ließ nach, die Schmerzen in der Brust wurden weniger. Das Letzte, was Lilith sah, war eine Hand, die versuchte, nach ihr zu greifen, aber es war zu spät. Die Dunkelheit und der Tod erwarteten sie bereits …
» NEIN! Hilfe! HILFE!!«
Lilith riss die Augen auf. Luft. Sie brauchte Luft.
Sie spürte, wie sich ihre Lunge mit Sauerstoff füllte, und sie atmete so tief und fest ein, wie es nur ging. Sie war am Leben! Es war nur ein Traum …
Liliths Wangen fühlten sich feucht an, und als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, hatte sie den Geschmack von Salzwasser im Mund. Einen Moment lang führte sie das darauf zurück, dass sie tatsächlich im Meer geschwommen sein musste, bis Lilith klar wurde, dass sie lediglich im Traum geweint hatte. Benommen setzte sie sich auf.
Sie fröstelte. Nicht etwa, weil es in ihrem Zimmer kalt gewesen wäre – nein, sie fühlte immer noch die Nähe des Todes. Als ob ein Teil von ihr nun tatsächlich tot
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