Lilith Parker: Insel Der Schatten
und leblos auf dem Grund des Meeres läge.
Der Gedanke war so schrecklich, dass Lilith den Kopf schüttelte, um ihn wieder zu verjagen. Seit ihrer Ankunft in Bonesdale hatte sie diesen Traum jede Nacht gehabt, aber er war noch nie so intensiv und realistisch gewesen wie gerade eben. Auch war es das erste Mal gewesen, dass sie sich selbst im Traum gesehen hatte. Was hatte das nur zu bedeuten? Hatte sie das Gefühl, dass sie sich selbst retten musste? Nein, so einfach war es nicht. Das, was sie im Traum getan hatte, die Gedanken, die sie gehabt hatte, das alles passte nicht zu ihr. Selbst in einem Traum würde ihr nicht in den Sinn kommen, sich als beste Schwimmerin Bonesdales zu bezeichnen. Es war, als ob sie in ihrem Traum … eine andere Person gewesen wäre. Ratlos fuhr sich Lilith über die Augen und schwang ihre Beine aus dem Bett.
Es war mitten in der Nacht und im Haus war es mucksmäuschenstill. Lilith wunderte sich, dass niemand ihre panischen Hilferufe gehört hatte, allerdings hatte sie ja schon festgestellt, dass die Räume um ihr Zimmer herum unbewohnt waren.
Lilith seufzte und beschloss, sich in der Küche etwas zu trinken zu holen. Fürs Erste konnte sie sowieso nicht mehr einschlafen. Als Lilith zur Tür ging, fiel ihr auf, dass sich etwas im Schlüsselloch bewegte. Zögerlich trat sie näher. Den Blutkaugummi hatte sie mittlerweile aus dem Schlüsselloch entfernt und der Schlüssel, der die Geistersicherung aktivierte, lag irgendwo auf ihrem Schreibtisch. Da ihr bisher kein Geist erschienen war, hatte Lilith es nicht für nötig gehalten, sich selbst einzusperren. Nun fragte sie sich, ob das so eine gute Idee war. Mit klopfendem Herzen ging sie in die Knie. Schwarze, dünne Beine zappelten aus dem Schlüsselloch heraus, kurz darauf kam ein ebenso schwarzer Körper zum Vorschein. Es war eine Spinne!
Lilith konnte nicht sagen, warum, aber sie hatte das untrügliche Gefühl, dass es dieselbe Spinne war, die sie vor einigen Tagen nach draußen auf die Fensterbank gesetzt hatte. Die Spinne blieb am äußeren Rand des Schlüssellochs sitzen und schien sie ebenso zu beobachten wie Lilith die Spinne. Schließlich zuckte Lilith mit den Schultern.
»Na schön, wenn du unbedingt bei mir im Zimmer wohnen möchtest, dann nehme ich dich offiziell als mein neues Haustier auf und ich nenne dich …« Lilith dachte einen Augenblick nach. »Günther! Tut mir leid, aber wer so penetrant und frech ist, muss mit einem gemeinen Namen leben«, sagte sie schmunzelnd. »Aber benimm dich anständig, während ich weg bin!«
Sie trat in den Gang hinaus. Das schwache Licht ihrer Nachttischlampe, das in den Flur fiel, reichte aus, um Lilith erstarren zu lassen. Sie öffnete den Mund, doch der Schrei, der in ihrer Kehle saß, konnte nicht entweichen.
Der Boden und die Wände vor ihrem Zimmer waren vollkommen schwarz. Doch es war nicht die Schwärze der Nacht. Wie ein lebender Teppich wogten Tausende von Spinnenleibern auf und ab. Das Kratzen der Chitinpanzer jagte Lilith einen kalten Schauer über den Rücken. Tausende von Augen waren auf Lilith gerichtet.
Doch die Spinnen griffen Lilith nicht an. Nach dem ersten Schrecken verspürte sie nicht einmal mehr große Angst vor ihnen. Sie hatte eher das Gefühl, dass die Spinnen auf etwas warteten. Als ob sie gekommen wären, um Lilith zu helfen.
»Geht, bitte!«, flüsterte sie, einer Eingebung folgend. Kaum hatte sie es ausgesprochen, machten die Spinnen kehrt und wuselten über die Treppe hinab nach draußen.
»Na, Großer, geht es dir schon besser?« Hannibals Kopf lag so schwer in Liliths Hand, dass sie Mühe hatte, ihm weiterhin die Ohren zu kraulen. Er hatte es sich in der Küche auf seinem Schlafplatz bequem gemacht und genoss mit sabberndem Mund die Streicheleinheiten. Emmas Mutter hatte am heutigen Morgen noch einmal nach seinen Wunden gesehen und Lilith versichert, dass sie gut verheilten und Hannibal schon bald wieder der Alte sein würde.
Lilith erhob sich schwerfällig. Der Schrecken der vergangenen Nacht steckte ihr immer noch in den Gliedern. Sie beschloss, etwas frische Luft zu schnappen, zog sich eine Jacke über und trat in den Garten hinaus. Es war ein sonniger, wenn auch kühler Herbstmorgen. Lilith entdeckte Arthur, der gerade mit unterdrücktem Fluchen an einer großen Leiter hantierte, hinten am Pavillon. Der Garten und der Anblick der Obstbäume, auf die sie nun zulief, brachten etwas in ihr zum Klingen. Als müsse sie sich dabei an etwas erinnern,
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