Lilith Parker: Insel Der Schatten
nehmen. Sie hatte zwar noch immer keinen Hunger, aber sie wollte auch nicht riskieren, dass sie auf ihrem Weg zum Kindermoor ohnmächtig wurde. Sie durfte auf keinen Fall ihren Vater auf irgendeine Weise in Gefahr bringen.
Lilith ging nach unten in die Küche, die heute wegen ihres Geburtstags mit Luftballons und bunten Girlanden geschmückt war. Nur mit Mühe hatte Lilith an diesem Morgen ein Lächeln aufsetzen und die Glückwünsche der anderen entgegennehmen können. Auf dem Tisch lagen noch ordentlich aufgereiht ihre Geschenke. Arthur hatte ihr aus dem »Trick or Treat« eine große Tüte Schokoladen-Zombiefinger besorgt, Sir Elliot ein Buch über die Geschichte Bonesdales, Isadora und Melinda hatten ihr ein mit ihren Initialen besticktes Taschentuch überreicht und Mildred hatte ihr ein wunderschönes Armband aus geschliffenen Muschelstücken gemacht, die sie selbst aus dem Meer gefischt hatte. Sogar von Regius erhielt sie ein Geschenk: Passend zu Halloween hatte er einen Blumenstrauß verzaubert, sodass die weißen und orangefarbenen Blüten wie kleine Kürbisfratzen und Skelettschädel aussahen. Natürlich hatte sich Lilith darüber gefreut, dass alle auf so nette Art und Weise an ihren Geburtstag gedacht hatten, trotzdem war den anderen ihre ungewohnte Schweigsamkeit aufgefallen. Lilith hatte es damit erklärt, dass sie am heutigen Tag ihren Vater noch mehr als sonst vermisse – was im Grunde sogar der Wahrheit entsprach.
Sie schnitt sich ein Stück ihres Geburtstagskuchens ab, setzte sich an den Tisch und zwang sich, davon zu essen. Schon nach den ersten Bissen rebellierte ihr Magen und eine Welle der Übelkeit erfasste sie. Lilith seufzte und schob den Teller von sich.
Natürlich hatte sie mit dem Gedanken gespielt, die anderen einzuweihen – trotz Nekrobas’ Warnung. Lilith wusste, dass sie ihm nicht vertrauen konnte. Sie hatte sich jedoch entschieden, nichts von der Entführung zu erzählen. Schließlich schienen Matt und sie die Einzigen zu sein, die gegen Nekrobas’ Mächte immun waren. Wie hätten Mildred und die anderen ihr helfen können, wenn Nekrobas sie mit einer einzigen Handbewegung dazu brachte, sich seinem Willen zu unterwerfen? Trotzdem, so musste sie sich nun eingestehen, wäre dies immerhin eine Möglichkeit gewesen, mehr über Nekrobas und das Amulett herauszufinden. Dass sie nicht wusste, wie mächtig dieser Dämon war und warum er so versessen das Bernstein-Amulett jagte, versetzte sie in keine gute Ausgangsposition.
Auch von dem Alraunensaft und ihrem Besuch in der Crepusculelane hatte sie den anderen nichts erzählt. Das würde sie später machen. Wenn sie und ihr Vater diese Nacht heil überstanden hatten. Denn dies war alles, was für Lilith in diesem Moment zählte.
Lilith zuckte erschrocken zusammen, als ein Klopfen sie aus ihren Gedanken riss. Noch ehe sie eine Antwort geben konnte, ging die Tür auf und Emma streckte den Kopf herein.
»Hallo, Geburtstagskind. Herzlichen Glückwunsch!« Sie strahlte Lilith an. »Wo bleibst du denn? Miss Tinkelton hat schon Sorge, dass sie sich auch heute persönlich um den Bühnenvorhang kümmern muss! Ich habe ihr natürlich gleich angeboten, nach dir zu sehen, um bei der Gelegenheit ein kleines Stück von deinem Geburtstagskuchen zu naschen.« Sie kam mit einem Grinsen herein und setzte sich zu Lilith. Emma war heute als Hexe verkleidet und sah aus wie eine freundlichere Miniaturausgabe ihrer Mutter.
»Hier, du kannst gerne meinen haben, wenn du möchtest!« Lilith schob ihren Teller zu Emma hinüber, die dankbar nickte.
»Du glaubst nicht, was in der Devilstreet los ist!«, stöhnte Emma kauend. »Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich mich durch diese Menschenmassen gekämpft hatte. Wenn wir gleich loslaufen, haben wir vielleicht Glück und kommen noch rechtzeitig zum Beginn der Vorstellung.«
»Ich kann nicht mit zu dem Fest kommen.«
»Feierst du etwa doch eine Geburtstagsparty? Ohne mich einzuladen?«
Lilith schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe etwas Wichtiges zu erledigen.«
»Heute Abend? Während alle anderen auf dem Halloweenfest sind?« Emmas Augenbrauen schossen fragend in die Höhe. Sie legte ihren Kopf schief. »Du willst doch wohl nicht bei jemandem einbrechen, oder?«
Lilith sah in Emmas rundliches Gesicht. In ihren großen braunen Augen lag eine Mischung aus Unverständnis und aufrichtiger Sorge. Die Versuchung, sich ihr anzuvertrauen, war allzu groß. Lilith spürte, dass sie Emma vertrauen konnte, und
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