Lilith Parker: Insel Der Schatten
»bewerbt Ihr Euch als Erbin des Nocturi-Throns. Bis zur Nacht des nächsten Neumondes entscheidet das Amulett, ob Ihr dessen würdig seid.«
»Heute Nacht?«, fragte Lilith zur Sicherheit, obwohl sie die Antwort bereits wusste.
»Heute um Mitternacht wird es seine Entscheidung fällen.«
»Und wenn ich nicht des Amulettes würdig bin?«
Strychnin wich ihrem Blick aus und fingerte konzentriert an seinen schwarzen Dämonenzehen herum.
»Dann … dann tötet es Euch«, sagte er kleinlaut.
»Das ist doch ein Witz, oder?« Lilith starrte den Dämon fassungslos an. »ODER?«
Strychnin schüttelte schweigend den Kopf.
»Dann ziehe ich die Kette jetzt eben aus.« Entschlossen nestelte Lilith am Verschluss herum. »Ich möchte mich schließlich überhaupt nicht als Erbin bewerben.«
»Ihr werdet die Kette nicht ablegen können«, prophezeite Strychnin. »Nach drei Tagen kann der Verschluss nicht mehr geöffnet werden.«
Nun wusste Lilith auch, warum Nekrobas die Kette nicht hatte zerreißen können, obwohl er mit aller Gewalt daran gezogen hatte. Mutlos ließ sie ihre Hände sinken. Das Zimmer begann sich vor ihren Augen zu drehen und sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt. Sie kniff die Augenlider fest zusammen, in der Hoffnung, dass dies alles nur ein schlimmer Albtraum war, aus dem sie jeden Moment erwachen würde.
Sie hatte geglaubt, dass heute die schlimmste Nacht ihres Lebens sei. Nun musste sie erfahren, dass es vielleicht die letzte Nacht war, die sie je erleben würde.
»Wie stehen meine Chancen, dass es mich als Trägerin akzeptiert?«, fragte Lilith mir heiserer Stimme. »Sei ehrlich, bitte.« Sie sah dem Dämon direkt in die schwarzen Augen.
»Ihr seid zwar eine direkte Nachkommin des Barons, allerdings hat das nicht viel zu bedeuten«, gestand ihr Strychnin. Er seufzte tief, bevor er weitersprach. »In der Zeit, als ich meinem Herrn, dem Baron, gedient habe, hat sich Victor Dragos II., der Vampirsohn des verstorbenen Amulettträgers, als Herrscher der Vampire beworben. Das Blutstein-Amulett hat ihn in der Neumondnacht getötet. Einfach pulverisiert. Von einer Sekunde auf die andere war nichts mehr von Victor übrig außer einer Handvoll Asche. Niemand weiß, warum das Amulett ihn als Träger abgelehnt hat, aber man munkelte damals, sein Wille sei zu schwach gewesen.«
Er legte den Kopf schräg. »Seid Ihr auch eine Banshee wie Eure Mutter?«, fragte er vorsichtig.
»Nein. Ja. Ich weiß nicht«, stammelte Lilith unsicher. »Heute ist mein dreizehnter Geburtstag. Ich wurde kurz vor Mitternacht geboren.«
»Oh verdammt, das könnte knapp werden«, entfuhr es Strychnin schlagartig. Er räusperte sich verlegen. »Entschuldigt, Eure Ladyschaft, aber das Amulett wird nie und nimmer einen Socor auswählen.«
Lilith nickte. Das hatte sie schon vermutet.
»Gibt es denn irgendwelche Vorzeichen, dass das Amulett den Träger ablehnen wird?«
Strychnin dachte angestrengt nach. »Wenn ich mich recht entsinne, wurde damals erzählt, dass es Victor in den Stunden vorher äußerst unwohl gewesen sei und er über Schwindel und Übelkeit klagte.«
Lilith schwieg einige Zeit, nicht imstande, etwas zu sagen. Das Amulett konnte sie gar nicht auswählen, daran hatte sie keinen Zweifel. Lilith wusste so gut wie nichts über die Welt der Untoten. Gerade hatte sie Strychnin noch erzählt, dass sie noch nicht einmal die Runenschrift lesen konnte – etwas, das in Bonesdale schon die kleinen Kinder lernten. Wie sollte das Amulett da ausgerechnet sie zur Führerin aller Nocturi bestimmen? Ein gerade mal dreizehnjähriges Mädchen, das in der Menschenwelt aufgewachsen war! Es gab wohl kaum jemanden, der weniger geeignet war.
Erschöpft fuhr sie sich mit den Händen über die Augen. Sie versuchte, diese Neuigkeit zu verarbeiten und wieder einen klaren Kopf zu bekommen, was gar nicht so einfach war. Auch wenn es ihr schwerfiel, sie konnte nichts anderes tun, als abzuwarten. Am besten sie konzentrierte sich auf ihr Treffen mit Nekrobas.
Aber was wäre, wenn sie während des Treffens – sie konnte kaum daran denken, ohne dass sich ihr dabei vor Angst die Kehle zuschnürte – tatsächlich pulverisiert wurde? Damit würde sie ihren Vater einer noch größeren Gefahr aussetzen. Ob Nekrobas sich dann an sein Versprechen halten und Joseph Parker freilassen würde? Wenn es für sie schon keine Rettung mehr gab, so sollte doch wenigstens ihr Vater diese Nacht heil
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